Auf die Zunge beissen und zuhören?

Gedanken zu einem Experiment

Was ist der Wert eines „Post-its“? Fragen Sie bloss keinen Historiker und auch keine Historikerin am Expertentisch. Fragen Sie zur Abwechslung jemanden aus dem Publikum. Eine Antwort liegt schon mal vor. Frau F. meint: „EDV verdrängt immer mehr das Papier“. Wird das Büro auch nicht papierlos werden, lautet ihre Begründung, so doch bestimmt „Post-it“-los. Deshalb müsse man ein „Post-it“ für ein Museum der Zukunft aufbewahren. Ganz dieser Meinung waren offenbar auch Hunderte anderer Menschen in den Januartagen 2001. Ein solches Haftzettelblöcklein gehört nämlich zur Sammlung der FÖRDERBAR, einer Sammlung, welche die Bevölkerung der Region Basel in einem mehrwöchigen Experiment für ein „Museum der Zukunft“ zusammengetragen hatte. Via Internet (www.foerderbar.ch) wurden die eintreffenden Stücke laufend bewertet. Mit einem Mausklick konnten sich Surferinnen, Objektspender, Interessierte und was weiss ich wer noch entscheiden: Diesem Sammlungsstück gebe ich einen Punkt, es soll zu den „Top Ten“ gehören, oder: Diesem anderen gebe ich nichts, das hat keinen Wert für die Nachwelt. Eine risikoreiche Idee, diese FÖRDERBAR: Die Wertekriterien resp. Aufnahmegründe standen nämlich nicht von vorneherein fest, sie sollten von den Beteiligten jeweils individuell formuliert werden. Anders als dies sonst bei Jubiläumsfeiern geschieht, sollte in der FÖRDERBAR, einem Experiment im Rahmen der Veranstaltungen von „Basel 2001“, Geschichte von den eigentlichen Akteurinnen und Akteuren erst geschrieben werden – subjektiv und prospektiv.

 

So gelangte das „Post-it“ in die Sammlung der FÖRDERBAR. Mit einer simplen Argumentation aus dem unspektakulären Alltag einer bis dato unbekannten Frau. Hätte man mich, den Historiker, nach dem künftigen Erinnerungswert eines solchen Blöckleins gefragt, wäre ich die Antwort nicht lange schuldig geblieben. Gäbe es ein passenderes, zeitgemässeres Symbol für die (Un-)Ordnung alltäglicher Erinnerungsarbeit? Die Marginalie wird nicht mehr auf den Pergamentrand gekritzelt, sie lässt sich direkt auf das Objekt des Gedankens, auf dessen materiellen Bezugspunkt heften. Ob Kaktus, Buch, Kühlschrank, Screen oder Wasserflasche. Wer solche Haftnotizen produziert, weiss auch um die Tücken des verzettelten Denkens. Wie bewahre ich die Übersicht, schaffe ich mosaikartige oder schuppenförmige Ordnungsmuster, Hierarchien, Netze? Wie fixiere ich den richtigen Ort des Zettelchens, das ja immer wieder zu verrutschen und abzufallen droht? Heikel wird es, wenn das ursprünglich als temporäre Marginalie, als Ergänzung Gedachte, sich zur Hauptsache auswächst und den eigentlichen Text zur darunterliegenden Nebensache werden lässt. Muss man dann Formate und Medien austauschen? Denn als Hauptsache taugt ein „Post-it“ nicht, hat es zu wenig Gewicht und zu ausgeprägte Adhäsionskraft. Zudem besitzt ein Haftzettel nur eine kurze Halbwertszeit der Nützlichkeit, sein appellatives Signalgelb wirkt allzu bald vertraut und dann harmlos. Eine typische Erinnerungsprothese, Vergessenshürde unserer zugeschriebenen- und überschriebenen Welt – so typisch, dass sie paradoxerweise auch im papierlosen Büro nicht verschwinden, sondern als elektronisch simulierte Schreibfläche auf den Bildschirmen von Texterinnen und Grafikern überleben wird. Vielleicht ist das „Post-it“ ja wirklich das geeignetste Objekt, um den Umbruch unserer Schrift- und Gedächtniskultur für die Nachwelt zu symbolisieren? Die Technikhistorikerinnen und Kulturwissenschaftler des 22. Jahrhunderts werden begeistert sein.

 

Nur: Solche Bedeutungen mag das „Post-it“ für künftige Generationen haben, solchen kollektiven Erinnerungswert projiziere ich als Historiker auf ihn. Doch der Wert des „Post-its“ als Objekt für ein Museum der Zukunft ist vorerst ein ganz individueller, subjektiver: jener, den ihm die vormalige Besitzerin zumass. Sie beschrieb das Objekt in Bezug zu ihrem Arbeitsalltag, zum Wandel ihrer sozioprofessionellen Praxis. Genau so wurde es erfasst und in die Datenbank und Sammlung der FÖRDERBAR aufgenommen, von einem Teammitglied der FÖRDERBAR, welches sich dabei vielleicht ständig auf die Zunge beissen musste, um nicht eigene Kommentare, Ideen, Urteile anzuheften. Denn es waren meist ausgebildete Fachleute wie der Schreibende selbst, Historikerinnen, Museologen, Archivare, welche diese Funktion des Zuhörens und Dokumentierens übernahmen.

Wertkrisen

 

Teil einer Versuchsanlage wie der FÖRDERBAR zu sein, hatte – so behaupte ich aufgrund der eigenen Erfahrung – durchaus eine befreiende Wirkung auf die beteiligten Expertinnen und Experten. Hier schien es möglich, die bekannte Theorie, Geschichte im Dialog mit den „Betroffenen“ zu schreiben, zur Praxis werden zu lassen. Der Gedanke an sich ist ja nicht neu. Theorie und Praxis der Barfusshistoriographie haben sich seit ihren Anfängen in den achtziger Jahren zwar auf dem freien Markt nicht behaupten können. Doch ihre universitäre Halbschwester, die Alltagsgeschichte, gehört inzwischen zum Kanon. Die Suche nach der Geschichte „von unten“, nach Formen der „Aneignung“, nach dem „Eigen-Sinn“ wie auch nach den materialistisch-konkreten Ausformungen menschlicher Produktion und Reproduktion: Viele im ausgehenden 20. Jahrhundert ausgebildete Historikerinnen und Historiker nennen solche historiographischen Ansätze inzwischen längst ihr eigen. Die FÖRDERBAR war daher etwas wie die stets erhoffte einmalige Möglichkeit des „field research“: Zuhören, Nachfragen, dichte Beschreibung beim Eintippen der Erklärungen etc. Bei Objekten und Erzählungen wie dem „Post-it“ schien dies kein Problem. Leicht liess sich der scheinbare Widerspruch von materiell geringem Wert (Coop-Verkaufspreis Fr. 1.80) und immaterieller Bedeutungsdichte (biographischer Bezug, technikgeschichtliche Relevanz) aushalten und ausdeutschen.

 

Härter gefordert wurde das Verständnis hingegen bei Begegnungen wie jener mit Frau R. und ihrem Telefon. Einleuchtend die biographische Relevanz des Objekts: Sie hatte es für ihre Tätigkeit als Wäscheschneiderin gekauft, es hatte sie während ihrer beruflichen Laufbahn begleitet. Doch heute, so Frau R., sei es Teil der Vergangenheit. Nicht nur hatte sie den Schlüssel verloren, mit welchem sie die Sperre an der Wählscheibe öffnen könnte. Heute besass sie ein Handy, war offenbar nicht mehr angewiesen auf das alte Telefon. Also ist es ein Objekt, das der Nachwelt genau von diesem komplexen Wertewandel erzählen wird: Dass mit dem praktischen auch der aktuelle identitätsstiftende Wert einer Sache verloren geht und diese dadurch „museal“ wird? Frau R. meinte: Aufbewahrt werden sollte ihre Spende für das Museum der Zukunft, weil man es sonst entsorgen müsse. Unklar blieb, welchen Wert das Objekt an sich für sie hatte. Ist es nicht eine historiographische Binsenwahrheit, dass die Generation von Frau R. eine ganz andere historische Erfahrung als die meine ihr eigen nennt und eine Wertschätzung der Warenwelt pflegt, welche nicht derart prägend der Verführung zum Konsum und der Erfahrung jeglicher Ersetzbarkeit erlegen ist? Oder spiegelt sich in meiner Verwirrung bloss mein eigener Abwehrreflex gegenüber der zunehmenden Immaterialisierung gesellschaftlicher Beziehungen, dem Verschwinden menschlicher Produktion im elektronischen Informationsrauschen? Wie kann Frau R., frage ich mich leicht beunruhigt, einen solch handfesten Träger von Erinnerungswert „entsorgen“ wollen?

Fragen und Meinungen

 

Eines machte die Versuchsanlage FÖRDERBAR klar: Der Wert der Dinge liegt nicht in sich begründet, in ihrem materiellen Nutzen oder ihrer technischen Funktionalität, ihrer Seltenheit. An sich sind es bloss Dinge, und mit Wert aufgeladen werden sie erst durch den Stellenwert, den ihnen Menschen zumessen durch die Platzierung in unterschiedlichsten Handlungs- und Bedeutungsnetzen. Die ca. 400 Objekte und dazugehörenden Geschichten, welche in der FÖRDERBAR gesammelt wurden, widerspiegeln dieses breite Spektrum möglicher Wertesysteme. Die Sammlung hat per Ende Januar ein Ende gefunden, und nun haben die so genannten Expertinnen und Experten, Historikerinnen und Archivare und Museumsfachleute das Wort. Sie werden debattieren, ob der Wert dieser Dinge in ihrer Materialität liege? Schliesslich zeugen nicht wenige Gegenstände von den Produktionstechniken des 20., zumTeil gar des 19. Jahrhunderts, wird die formende Kraft menschlicher Handarbeit sichtbar. Zum Beispiel bei alten Schuhen, bei Zigarettendöschen, beim Schröpfschnepper. Entsteht der Wert erst durch die Praxis des Individuums, welches sich ein industriell gefertigtes Serienprodukt aneignet und mit biographischem Wert auflädt? Gerade das Zigarettendöschen: Aus der Erzählung seiner Besitzerin wird erst erkennbar, dass die Bedeutung nicht im Aufbewahren von Zigaretten lag oder im Präsentieren eines Schmuckstücks – sondern im Aneignen einer Aura von Weltläufigkeit und Selbstsicherheit, die sich eine junge gebildete Frau in den zwanziger Jahren als Antwort auf die angezweifelte Geschlechtsidentität („Frauen mit Matur sind hässlich und finden eh keinen Mann“) zu geben versuchte. Gibt es überhaupt einen singulären Wert? Liegt der eigentliche Wert nicht in der Gesamtheit der Sammlung selbst, in ihrer Heterogenität, in ihren inneren Wert-Widersprüchen? Erst diese machen doch das Neben-, Gegen- und Übereinander gleichzeitig vorhandener Wertsysteme sichtbar.

 

Heikel wird es vor allem dann, wenn die individuelle Bedeutungszumessung durch die Objekt-„SpenderInnen“ mit gesellschaftlichen Wertedebatten in Beziehung gesetzt werden soll. Die Insulinampulle – um ein anderes Objekt zu nennen – repräsentierte für die jugendliche Überbringerin zugleich Hilfe wie lebenslängliche Abhängigkeit von Pharmazie und Medizin. Doch die aktuellen Debatten zu diesem Bereich drehen sich um weit grundlegendere Konsequenzen der Gentechnologie, um Klonen, um das Verhältnis von „Natur“ und „Wissenschaft“. Vor diesem Hintergrund scheint der Stellenwert der Insulinampulle zu gering, um der Nachwelt eine Ahnung von „unseren“ Problemen zu vermitteln. Sagt zum Beispiel ein Museumsvertreter. Und plötzlich erhalten die Bedeutungen eine hierarchische Ordnung, wird sichtbar, dass das Spiel der Wertzumessungen immer wieder in ein Ringen um Deutungsmacht ausläuft. Wer bestimmt, worin „unsere“ Probleme bestehen: Der Diskurs der biotechnologischen Wissenschaft? Die Kulturwissenschaftlerinnen und ihre Vorstellungen über Körper und Gesellschaft? Die Gesundheitspolitiker oder die einzelne Diabetikerin? Wem „gehören“ welche „Probleme“?

 

Das Experiment FÖRDERBAR hat sich diesen heiklen Fragen explizit entzogen. Die Sammlung für das Museum der Zukunft ist in einem offen angelegten Prozess entstanden, was einige Beobachter prompt auch kritisierten. Beliebigkeit, postmoderne, sei das; man drücke sich vor einem Positionsbezug und nehme die per Funktion und Institution übertragene Verantwortung nicht wahr. Schliesslich hat man ja eine Meinung, warum soll man sie verschweigen? Kein Museum, kein Archiv, keine Sammlerin kommt umhin, Wertkriterien zu bestimmen, eine Auswahl zu treffen, Nein zu sagen. Schliesslich, so eine Wortmeldung, wisse man noch immer um den Unterschied zwischen Wertvollem und „Grümpel“, dafür sei man ausgebildet und bezahlt. Unter solch strengem Richterauge findet natürlich kaum eines der ca. 400 Objekte aus der Sammlung der FÖRDERBAR Gnade. Indesssen werden solche Urteile nicht nur nicht der Anlage des Experiments nicht gerecht, sie verweigern sich auch jener realen gesellschaftlichen Wertepluralität, wie sie gerade im „Grümpel“ – Haufen zum Ausdruck kommt. Und ob solch eine Verweigerungshaltung, ganz in der Tradition des aufklärerischen Experten-Besser-Wissens, letztlich ihre eigenen klaren Werte wirklich vermitteln und durchsetzen kann? Wer über die Grenzen der akademischen Selbstverständigung hinausschaut, beisst sich schnell mal freiwillig auf die Zunge. „Wert“ hat in der öffentlichen Meinung – auch das zeigt die Vielfalt des Gesammelten deutlich – ungeachtet aller Fachdiskurse noch immer das „Alte“, „Herausragende“, „Elaborierte“, „Männliche“. Das kann man als Nostalgie und Vorurteil abtun oder wortwitzig bekämpfen, ignorieren sollte man es nicht. Es ist eine heilsame Erschütterung für das Selbstbewusstsein von Geschichtsschreibenden, drei Stunden am Tresen der FÖRDERBAR zu stehen und derartige Konfrontationen auszuhalten. Schweigen? Ja, zumindest für den Moment.

Schätzen statt Schätze Sammeln

 

Aber auch: Später sich laut Gedanken über den eigenen Wertekatalog machen. So offen der Sammlungsprozess der FÖRDERBAR auch angelegt war, formlos und unendlich war er nicht. Als Fluchtpunkt stand das „Museum der Zukunft“ fest, eine wunderbare Projektionsfläche. Bestimmt versuchten manche Objektspenderinnen mit ihren Beiträgen jenem Wertedenken gerecht zu werden, das viele heutige Museen prägt. Wo „Schätze“ inszeniert, Einzelstücke auf Sockel gesetzt und überhöht werden. Dass ein Museum in 100 Jahren nicht mehr so aussehen kann, dass die Formen der Vermittlung und die Funktion des Vermittelns sich markant ändern werden, war wiederum die Meinung anderer Teilnehmer des Experiments. Der Sammlungsprozess hat diese Frage nach Form und Sinn eines künftigen Museums eher noch verschärft denn beantwortet. Eine „Laien“-Kollektion lässt sich nicht einfach in ein „Experten“-Museum integrieren. Und die Sammlungsstücke geben wenig her als klassische Objekte. Ihr Wert liegt im Kontext: in der bedeutungsstiftenden Begleiterzählung ebenso wie im Panoptikum des Ganzen. Eine Wertbestimmung lässt sich weder an Expertinnen noch an Laien delegieren, da sie erst aus deren Interaktion entsteht. Vielleicht muss das Museum der Zukunft diese Konstruktion von Bedeutung nicht ausstellen, sondern praktizieren. In einer permanenten Konfrontation von individuellem und gesellschaftlichem Wertanspruch, von Konservatoren und Nicht-Konservatorinnen. Vielleicht muss das Museum der Zukunft nicht primär bewahren, was wertvoll ist, sondern permanent einladen zum Schätzen. Der Gerechtigkeit halber würden sich dann der Museumsdirektor mit der Silberkanne und die Überbringerin des „Post-its“ abwechselnd auf die Zunge beissen, wenn das Gegenüber seine Wertvorstellungen formuliert.

Die FÖRDERBAR: Teil der Jubiläumsveranstaltungen 500 Jahre Basel beim Bund

 

Die FÖRDERBAR stand im Januar 2001 in Arlesheim, Sissach, Basel und Pratteln. Sie besteht aus zwei Überseecontainern, verbunden durch ein Förderband. Der vordere Container ist als Bar eingerichtet: Hier empfangen Bar- und Storykeeper die PassantInnen. Der Storykeeper erfasst Objekt und dazugehörige Geschichte mitsamt Begründung („Warum soll das ins Museum der Zukunft“) in einem EDV-Terminal. Das Objekt wird vom Förderband real und symbolisch in den hinteren Container, das Archiv, transportiert.

 

Betrieben wurde die FÖRDERBAR von der Firma „Grabe wo du stehst Gmbh“, entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Kantonsmuseum Baselland und der Forschungsstelle Baselbieter Geschichte. Das Projekt war Teil der Veranstaltungen des Trägervereins „Alles bleibt anders“, der anlässlich der Feierlichkeiten zum 500-jährigen Beitritts Basels zur Eidgenossenschaft („Basel 2001“) mit der Durchführung des „historischen“ Programmteils beauftragt worden war. Die mehrwöchige Sammelphase wurde mit einer öffentlichen Debatte unter Beteiligung von Museumsfachleuten und HistorikerInnen abgeschlossen. Die Sammlung geht an das Kantonsmuseum Baselland als Grundstock für das künftige Museum der Zukunft.

Dieser Text wurde erstmals publiziert in der Zeitschrift traverse, Juni 2001.