Kirchturmpolitik

Territoriale Identitäten im Laufental

Im Alltag der Laufentaler Bevölkerung dominierte seit Jahrhunderten ein ausgesprochen dörflicher Denk- und Handlungshorizont – auch als im 19. Jahrhundert die alte Gemeinde der Bürger und Bauern sich zu verändern begann, unter dem Einfluss der Industrialisierung und der staatlichen Reformen im Gemeindewesen. Je stärker die bisherigen Bindungen an Kraft verloren, desto heftiger wurde der „Dorfgeist“ beschworen. Ein Fallbeispiel aus der Gemeinde Röschenz zeigt, wie sich dörfliche Gemeinschaft formierte in Abgrenzung gegen staatliche Ansprüche und durch Ausgrenzung von Fremden.

Ein Vandalenakt?

 

1877 starb in der Gemeinde Röschenz der Landwirt Joseph Saner. Er wurde auf dem dortigen Friedhof beerdigt, das Grab erhielt eine Marmorplatte und eine Trauerweide zum Schmuck. Seine Angehörigen, Sohn Urs in Röschenz und die in Paris mit dem Bankier Bécourt verheiratete Tochter Theresia, wollten damals die danebenliegende Grabstelle reservieren lassen. Später sollte dort ein Familiengrab erstellt werden. Der Preis, den die Gemeinde verlangte, schien Saner und Bécourt allerdings zu hoch. Im Sommer 1881 gelangte der Schwiegersohn Saners dann erneut an die Gemeindebehörden und bot eine Summe von 500 Franken. Dafür wollte er auch ein silberbronziertes Eisengeländer um Saners Grab aufstellen. Im vorausgegangenen Jahr seien Grabplatte und Kreuz von Unbekannten stark zerkritzt und angeschlagen worden. Wiederum scheiterte Bécourts Anliegen. Die Gemeinde forderte glatt das Doppelte an Entschädigung. Dennoch liess Urs Saner Ende Sommer 1881 das fragliche Gitter aufstellen. Anfangs September erschien dann der Dorfweibel bei Urs Saner: Das Gitter sei binnen acht Tagen zu entfernen, ansonsten es der Gemeinderat auf Kosten Saners abbrechen lassen werde. Saner stellte den Gemeindepräsidenten zur Rede. Bevor es aber zu einer Lösung kam, wurde in der Nacht vom 25./26. September 1881 das umstrittene Eisengeländer von unbekannter Hand weggerissen, die Steinplatte aus der Erde gehoben. Doch damit nicht genug: Genau zwei Wochen später, wieder in der Nacht von Sonntag auf Montag, wurde die Grabschändung fortgesetzt. Diesmal verteilten die Täter die übriggebliebenen Stücke des Eisengitters im Dorf. Nun reichten Urs Saner und Alfred Bécourt Anzeige ein und verlangten, dass eine Untersuchung eingeleitet werde. Nach Umwegen über den schweizerischen Konsul in Paris, den Bundesrat und die Direktion der Justiz und Polizei in Bern gelangte die Affäre zum Regierungsstatthalter nach Laufen. Am 18. Januar 1882 schlossen die beiden Parteien, Gemeinderat und Saner/Bécourt, einen Vergleich. Ein Familiengrab Saner gab es dennoch nicht. Noch am 8. Dezember 1881 hatte die Gemeindeversammlung ihre Zustimmung zum Vergleich endgültig verweigert. Auf Geheiss des Regierungsstatthalters musste nämlich ein Friedhofreglement erstellt werden. Und in dessen erstem Paragraph, so die Gemeindeversammlung, werde man die Erstellung von Familiengräbern sowieso verbieten.

 

Symbolische Gleichheit

 

Warum wohl stiessen sich so viele Leute in Röschenz an dem geplanten Familiengrab? Saner habe „dem Ortsgebrauch ganz entgegen“ gehandelt, hiess es, denn „gemäss altem Herkommen [würden] die Begräbnisse in gleicher Reihenfolge auf dem gemeinsamen Kirchhofe stattfinden“. Eine derart „auszeichnende Einfriedung des Grabes“ sei noch nie verlangt worden. Saner dürfe nicht mehr Recht beanspruchen als andere Dorfbewohner. Von Gleichheit in diesem Sinne, also vom demokratischen Prinzip der Gleichberechtigung, sprach vor allem Notar Fridolin Weber. Ein anderes Verständnis lag jedoch dem Zerstörungsakt selbst zugrunde. Die Grabstätte wurde damit äusserlich wieder den übrigen Reihengräbern gleichgemacht. Die Einfriedung eines Grabes wiederholt ja im Grunde die abschliessende Bewegung der Friedhofsmauer. Trennte jene den sakralen Raum vom weltlichen, so schuf das Grabgeländer einen Unterschied zwischen öffentlichem und individuellem Raum. Mit dem Geländer rings um das Grab Joseph Saners wäre innerhalb des Kirchhofs ein deutlich hervorgehobener sakraler und sozialer Raum entstanden. Denn der Kirchhof repräsentierte zwar eine andere Welt, das Jenseits, doch in ihm war auch das Diesseits gegenwärtig. Er verkörperte die kollektive Vergangenheit der Dorfbevölkerung, war Ort und Medium sozialer Erinnerung, sensibler Teil der Dorföffentlichkeit. Deshalb versuchten die Grabschänder, hier wieder Gleichheit herzustellen.

 

Es handelte sich bei dieser Gleichheit allerdings um eine Selbstdarstellung nach aussen, um eine symbolische Schaffung von Gemeinschaft gegenüber der Aussenwelt. Im Innern hingegen besass Gleichheit eine relative Bedeutung. Auf dem Kirchhof zu Röschenz gab es schon vor der Grablegung Saners deutliche Differenzierungen. Die einzelnen Grab-stellen unterschieden sich voneinander in Form, Grösse und Wert des Grabschmucks. Gleichheit auf dem Friedhof existierte – wie im Dorf selbst – nur auf der symbolischen Ebene. Damit war durchaus vereinbar, dass Einzelne sich einen bevorzugten Platz erkaufen konnten, um einen saftigen Preis allerdings. Was diese ausbalancierte Ungleichheit so nachhaltig störte, dass es zur Grabschändung kam, war nicht der Anspruch Saners auf ein Familiengrab – sondern die Tatsache, dass der verstorbene Joseph Saner und seine Erben keine gewöhnlichen Röschenzer Bürger waren. Joseph Saner stammte aus dem solothurnischen Weiler Huggerwald, ca. 5-6 km Luftlinie von Röschenz entfernt gelegen. Zum Zeitpunkt seines Todes 1877 wohnte er schon seit über 20 Jahren in Röschenz „als Ackermann unter ganz gewöhnlichen Verhältnissen niedergelassen“. Fremd waren Saners in mehrfachem Sinne: als kantonsfremde Nichtbürger in einer von Bürgern dominierten Dorfgesellschaft und als Verwandte eines reichen Ausländers in einer armen Gemeinde. Im öffentlichen Gedächtnis des Dorfes sollten sich Fremde aber nicht durch übermässigen Grabschmuck hervorheben. Schon die schwarze Marmor-Grabplatte war auffällig genug, das Gitter wäre nur noch um einen hohen Preis toleriert worden. Wahrscheinlich gab hier das Auftreten des Pariser Schwiegersohns den Ausschlag. Die pekuniäre Macht eines Fremden, der sich Privilegien erkaufen konnte und dies auch nicht verbarg, drohte die dörfliche Gemeinschaft zu unterwandern. Darauf reagierte die Gemeinde mit erhöhten Forderungen und mit Widerstand. In der Begegnung mit dem reichen Fremden wurden die Grenzen der eigenen Gemeinschaft symbolisch neu markiert.

 

Machtkampf im Staat

 

Aus den Beschwerdeakten lässt sich der Hergang der Ereignisse einigermassen rekonstruieren. Der Schriftwechsel selbst dokumentiert eine wesentliche Veränderung des Konflikts. Vor 1881 hatte sich der Streit zwischen Erben Saner und Gemeinde Röschenz im Dorf abgespielt. Doch dann rief Bécourt Konsul und Regierungsbehörden zu Hilfe und sprengte damit Rahmen und Regeln innerdörflicher Politik. Mit der Beschwerde trat der bernische Staat ins Spiel ein und drängte die Gemeindebehörde in die Defensive. Der Streit um das Grab war zur föderalistischen Kraftprobe geworden, der Einsatz hiess jetzt nicht mehr nur Gleichheit, sondern vor allem Autonomie. Hier wurden die Macht und die Geschlossenheit des Dorfes gegenüber Eingriffen von aussen inszeniert. Unmissverständlich bekam Urs Saner diese Ausgrenzung zu spüren. Das Schweigen markierte die Grenze zwischen der Dorfbevölkerung und den Erben Saners. Im Grabstreit zu Röschenz wird so das komplexe Spannungsfeld Staat-Gemeinde-Kirche sichtbar. Während der akuten Konfliktphase des Kulturkampfes (1873-1878) hatten verbotene römisch-katholische Begräbniszeremonien immer wieder für Protest und Widerstand gesorgt. Der Friedhof stellte einen wichtigen Bereich jener Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche dar. Nicht nur die Führung der Zivilstandsregister, sondern auch die Verwaltung der Toten war der Kirche entzogen und den weltlichen Behörden überbunden worden. Die bernische Kulturkampf-Politik zielte auf eine Entflechtung von staatlicher und kirchlicher Öffentlichkeit – und damit auf das herrschaftliche Selbstverständnis der dörflich-katholischen Gesellschaft. Einblick in dieses Beziehungsgeflecht geben auch andere Beschwerdeakten aus Röschenz. 1879 klagte der Posthalter Peter Schnell gegen die Dezemberwahlen in den Gemeinderat. Der Weibel habe beim Verkünden zu verstehen gegeben, der Pfarrer wolle nicht, dass man für die Gegenkandidaten stimme. Offensichtlich versuchte hier eine (eher liberal gesinnte) Fraktion der Bevölkerung, den Machtverbund zwischen Pfarr- und Rathaus zu sprengen. Und 1891 verlangte der ehemalige Amtsrichter Urs Burger, dass der Pfarrer für die Abhaltung von Totengedenkmessen, den sogenannten Jahrzeiten, nicht mehr separat entschädigt werde. Eine Forderung, die exakt den kulturkämpferischen Voten der bernischen Regierung entsprach.

 

In bestimmter Hinsicht unterschied sich dieser Grabstreit kaum von einer der zahlreichen Tellsteuer- oder Stimmrechtsbeschwerden, wie sie den politischen Alltag der Gemeinde prägten. Gestritten wurde hier wie da um Macht oder Geld, wegen persönlicher oder parteipolitischer Differenzen, mit formaljuristischen Argumenten oder der Arroganz der Mehrheit. Ungewöhnlich an der Röschenzer Beschwerde war der Schauplatz, der Friedhof, und vor allem die dichte Beschreibung der Konflikthandlungen. Diese macht nachvollziehbar, wie ein Grabstreit auch als Medium dörflicher Identitätsfindung diente in einer Zeit des Umbruchs. 1881 gehörte Röschenz zum ärmeren Drittel des Laufentals, die zahlreichen Nutzungsbeschwerden dokumentieren die Verteilkämpfe und die sozialen Veränderungen. Auch als konservativ-katholische Hochburg kannte Röschenz eine rege innerdörfliche, parteipolitische Opposition. Deshalb kam dem symbolischen Kampf um Gleichheit und Autonomie besondere Bedeutung zu: Hier wurde dörfliche Gemeinschaft verteidigt und neu hergestellt durch Ausgrenzung von Fremden, ob dies nun reiche Auswärtige oder ob Verbündete staatlicher Macht waren. Umgekehrt verfestigte sich so der schlechte Ruf dörflicher Öffentlichkeit. In den Augen der Staatsbehörden und der liberal gesinnten Bevölkerungsteile hiess Dorf soviel wie: mangelnde demokratische Kontrolle, Misswirtschaft, Starrsinn und Interessenfilz.

 

Dörfliches Überleben

 

In solch alltäglichen Konflikten widerspiegeln sich zwei gegenläufige Entwicklungen. Während einerseits Migration, Fabrikarbeit, Demokratie und Parteipolitik die Konturen der alten Gemeinde von Bürgern und Bauern unscharf werden liessen, behielten die symbolischen Grenzen des Dorfes ihre Gültigkeit. Noch bis in die 1960er Jahre hinein bildeten Verwandtschaft und Grundbesitz die wichtigsten Kriterien für Zugehörigkeit, und Heimatgefühle wurden weniger an bestimmten Landschaftsmerkmalen denn an spezifisch dörflichen Ordnungs- und Machtbeziehungen festgemacht. Anders als im Nordjura entstand hier im Jurakonflikt keine regionale Identität. Die komplexe Grenzlage und die sich überlappenden Bezugsräume verstärkten die alten Selbstbilder vom Laufental als einem Land der Kirchtürme.

 

Erschienen in: Geschichte 2001. Mitteilungen der Forschungsstelle Baselbieter Geschichte Nr. 25, Juni 1998, S. 1-5.