Lust auf Vergangenheit?

Arten zu erinnern

Wenn dann die Millenniums-Klippe endgültig umschifft sein wird, im Januar 2001, ist es Zeit für eine grosse Bilanz. Was ist jetzt anders, was ist gleich geblieben? Dann werden nicht mehr Trendforscher die Illustriertenseiten füllen, sondern die Historikerinnen. Sie werden Antworten geben müssen auf die Frage, wie unser jetziges, dann bereits das „letzte“ geheissene, Jahrhundert zu erinnern sei. Schon jetzt legt sich musealer Staub auf die Gegenwart, die so bald Vergangenheit sein wird. Am Ende eines Jahrhunderts, das wie noch keines zuvor auf Veränderung getrimmt wurde, bleibt wenig Zeit zum Begreifen. Individuelle Erfahrung, kollektives Wissen und kulturelle Überlieferung driften immer weiter auseinander. Wer zählt all die Denkmäler, die Memoiren, die Anstrengungen „wider das Vergessen“? Wir leben in einer Informations- und Mediengesellschaft, deren Bedarf an Interpretation und Erinnerung exponentiell zu der Menge an verfügbarem und immer flüchtigerem Wissen wächst. Als Historiker schreibe ich mit am Gedächtnis unserer Gesellschaft, soll die Unmengen an Informationen und widersprüchlichen Bedeutungen in eine verständliche Form bringen. Wie kann man dieses „Zeitalter der Extreme“ erinnern?

 

Memory

 

Im Gespräch mit meiner Grossmutter. Ich möchte begreifen, was sie in den bisher knapp 90 Jahren ihres Lebens erfahren hat. Sie holt alte Aufnahmen hervor, beginnt aus ihrer Jugend zu erzählen. Die Geschichte ihres Lebens folgt zunächst einer klaren Linie: Herkunft aus dem Badischen, Aufwachsen in den Arbeiterquartieren Kleinbasels; Umzug in das ersparte Reihenhaus der Eltern, Einbürgerung, Begegnung mit der künstlerischen Avantgarde der späten Zwanzigerjahre; Hochzeit, Kriegsjahre und der Rückzug ins Familienleben, später Wohlstand. Und dann, unter dem Eindruck der aktuellen Debatte über die schweizerische Kriegs- und Nachkriegszeit, fängt meine Grossmutter an, ihre Geschichte zu kommentieren, zu interpretieren und neu darzustellen. Jahrzehntelang gab es nur eine kollektive Version, die Geschichte dieser Jahre war geschrieben. Jetzt löst sich diese grosse, überpersönliche Erzählung langsam auf in viele, teilweise widersprüchliche Geschichten. Im Gespräch prallen mein Wissen und ihre Erfahrung aufeinander. Sie nennt Namen, Daten, Bilder: Mir bedeuten sie nichts oder dann etwas Abstraktes, Anderes. Ich versuche diese Begegnung zwischen zwei unterschiedlichen Gedächtnissen zu begreifen. Deshalb fange ich an, Karteikarten zu beschriften, Ordnungen zu finden. Es stehen Gesprächszitate neben eigenen Eindrücken, Sätze aus meiner Erinnerung neben neu formulierten Geschichten meiner Grossmutter. Der Karteikasten wird zur Werkstatt, zu meiner Form des Erinnerns und des Geschichte Schreibens.

 

Mir kommen jene anderen Lebensgeschichten in den Sinn. Einfache Menschen aus dem ländlichen Laufental, Bäuerinnen und Fabrikarbeiter, nicht gewohnt, von sich zu erzählen. Ich bin da gesessen und habe ihnen zugehört. Fremd war mir die Welt, die sie beschrieben, fremd die Art, wie sie erzählten. Ich wüsste mich nicht mehr so zu platzieren in meiner Welt, im Beziehungsgeflecht zwischen Dorfnachbarn und Verwandtschaften, Kinderpflicht und Arbeitszwang. Ich stolpere über die vielen „man“ und „wir“ in ihrer Geschichte, suche unwillkürlich nach dem „Ich“. Ich wundere mich über die ausgebliebene Bitterheit, auch jener die nicht glücklich geworden sind. Im Nachhinein bin ich froh, dass sie nicht auch meine Geschichte hören wollten. Vielleicht hätte ich ihnen anstelle einer Erzählung einige jener vielen Bilder gezeigt, welche ich von mir besitze. Seit Kinderjahren bin ich von meinen Eltern fotografiert worden, habe mich selbst immer wieder auf den Drehsessel im Passbildautomat gesetzt. Es kostet mich eine Kleinigkeit, ganze Filmrollen mit mir zu füllen. Systematisch wächst mein Bildgedächtnis heran. So persönliche Geschichten diese Erinnerungsbilder auch in mir wachrufen, es sind mechanische Kopien der Wirklichkeit. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Bilder ist eine visuelle Erinnerungsindustrie herangewachsen. Video- und Internetkameras dokumentieren den Wandel im Minutentakt. Die Porträtgalerien der Vergangenheit, die Fotoalben des bürgerlichen Zeitalters, sie haben sich längst ins Unendliche vervielfältigt.

 

Ich stehe vor dem Nachlass eines lokalen Fotografen: Schachtel um Schachtel mit ganzen Jahrgängen von Erstkommunikanten, Hochzeitspaaren, Junggesellen, Patriarchen. Die grossformatigen Negative verkörpern in ihrer unaufhörlichen Abfolge, in ihrer düsteren Schattenhaftigkeit eine Erinnerung, die nach Tod riecht, nach Vergänglichkeit. Die hier porträtierten Menschen haben keine Stimme, keine Vergangenheit. Fotos sind Zitate, schrieb John Berger. Sie erzählen keine Geschichte, sie sind selbst ausgeschnittene Geschichte, fragmentierte Momente. Mit der Menge der Bilder wächst das Gefühl der Beliebigkeit und Verlorenheit. „Gebt der Erinnerung Namen“, forderte Saul Friedländer in seiner Dankesrede zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 1998. Erst wenn die Vergangenheit ein individuelles Gesicht erhält, eine persönliche Geschichte, gewinnt das Erinnern eine humane Form. Am Ende des 20. Jahrhunderts droht die Dokumentation des Schreckens in ihrer Monumentalität eine ähnliche Flucht ins rasche Vergessen zu provozieren wie die Bilderflut des Alltags.

 

Ohne Worte

 

Noch wird die Welt in Worten beschrieben. Doch die Texte selbst nähern sich den Gravitationszentren der Typographen und Gestalterinnen, bis sie selbst zu visuellen Ereignissen geraten. Ich bin in einer Welt der Schrift aufgewachsen und hinübergerutscht in das Reich der Benutzeroberflächen, Piktogramme und der Bild-Schirme. Ich habe gelernt, Schriften zu lesen, Texte zu entschlüsseln, selber mich in Worten mitzuteilen. Und jetzt beschleicht mich manchmal ein Gefühl der Unzulänglichkeit, hebe ich den Kopf aus den Aktenbänden. Die Geschichte von morgen lässt sich nicht mehr nur be-schreiben, denke ich, überall schieben sich Bilder über das Alphabet. Bilder ohne Worte, aber voller Bedeutungen: Kauf mich, glaub mir, Emotionen, Versprechen, Assoziationen. In unruhigen Nächten laufen die ganzen Filmrollen meiner täglichen Wahrnehmungen ab in meinem Kopf, Bildergeschichten ohne Worte. Vielleicht sind das die neuen Formen, sich zu erinnern, sich mitzuteilen, frage ich mich?

 

Ich erinnere mich an die Installation Memory, ein Projekt zusammen mit meiner Schwester. Eine Künstlerin und ein Historiker versuchen mit ihren jeweils sprachlichen oder fotografischen Medien Erinnerung fassbar zu machen. Grossformatige Farbbilder, Chiffren für die Erinnerungen der Enkelin, konstrastieren mit den schwarz-weissen Albumfotos der Grossmutter. Nur selten beziehen sich Text und Fotografie sichtbar aufeinander. Die Bilder besitzen ihre eigene Geschichte. Und in der künstlerischen Verarbeitung wird Erinnerung als metaphorische Bildersprache begreifbar: Nicht historisches Wissen wird in den Fotografien dokumentiert, sondern die Möglichkeit assoziativer, eben bildhafter Rekonstruktion von Erfahrungen. Und die nicht überbrückbare Distanz zwischen historischer und gegenwärtiger Wahrnehmung. Ist es Zufall, dass das Thema der Erinnerung in der Kunst zur Zeit Viele auf ganz verschiedenen Ebenen beschäftigt? Religion, Rhetorik, Literatur und Wissenschaft, die bisherigen Gralshüter des Erinnerns, erhalten Verstärkung durch neue, künstlerische Formen des Gedenkens.

 

Richtungen

 

„Ist nicht die Erinnerung die Impotenz des Verlangens?“, zitiert Vásquez Montalbáns Privatdetektiv Carvalho den Dichter Cernuda. Das gegenwärtig unübersehbare Interesse an Geschichte freut die Memoirenschreiber und Romanciers. Doch die Beschäftigung mit Vergangenem scheint allzu oft motiviert durch eine immanente Unlust an der Gegenwart und an der Zukunft. Wenn die Ideologien zerfallen, mag niemand mehr eine Utopie entwickeln. Und die Zukunft wird, wie die Erfolgsgeschichte der Science Fiction Saga „Star Wars“ beweist, nur noch als das Ewig Gestrige im technologisch neuen Gewand gedacht. Die rekonstruierte Vergangenheit, in Gedenkfeiern, Museen, Filme und Bilder gebannt, ist gegenwärtiger denn je. Als solle das Erinnern die Gegenwart mit der Vergangenheit versöhnen und beides zusammen bringen. Rückwärtsgewandte Prophetie, entschärft und in Buchform gebracht. Geschichte als Konsumartikel, Infotainment? Vielleicht schafft es der Verzicht auf Worte, die künstlerische Verarbeitung, den erlebten Schrecken in Erinnerung zu halten: als unbequemes Mahnmal der Distanz und Nähe, die uns mit dem 20 Jahrhundert verbindet.

 Dieser Text wurde erstmals publiziert im Basler Stadtbuch 1999.