Von der Lust, gemeinsam ans Ziel zu wollen

Anmerkungen zum Phänomen der Prozession

Es geht los. Da steht dieser Begriff, „Prozession“, und macht kribblig. Füsse scharren, Kehlen räuspern sich, weiter vorne heben sich Fahnen. Bald wird zum Aufbruch geblasen. Doch wohin? Und aus welchem Grund? Manch einer würde ja nicht mitlaufen wollen, ginge es einfach zum Feldaltar oder zur Festwiese. Doch da steht dieser Begriff, „Prozession“, und verspricht mehr. Das Wörterbuch deutet die Richtung an: Es geht um Bewegung, öffentliche, gemeinsame. Das lateinische Tätigkeitswort „procedere“ bedeutet soviel wie „vorwärtsschreiten“. Dann aber auch vorrücken, bewaffnet; auftreten, öffentlich; zu Ehren kommen, im akademischen Sinne; fortdauern, z.B. in Marmor oder Bronze; tiefer eindringen, bis zum Kern der Sache; sich versteigen, etwa in eine fixe Idee; gelingen oder auch einfach: ans Ziel gelangen.

Eine ehrgeizige Bewegung, die nach vorne drängt und vieles will. Das hat sie ihren zwei Kindern, dem Prozess und der Prozession, vererbt. Wörtlich übersetzt heissen die beiden Fortgang und Umzug. Etwas freier assoziiert könnte man sie auch Fortschritt und Vorführung nennen. Steckt nicht in ihnen das Versprechen: Vorwärts, alle miteinander, spürt den Takt, zeigt euch, fasst Schritt – und ab geht es Richtung Glück? Soviel Optimismus provoziert Skepsis. Warum soll ich mich in bestehende Strukturen einreihen statt meiner individuellen Wege zu gehen? Ist nicht zielloses Streunen natürlicher als solch geradliniges Vorwärtsdenken? Kann ich darauf vertrauen, dass mein Wille nicht dem Führungsanspruch der Spitze nachgestellt wird?

Mit dem Verdacht auf Macht müssen Prozess wie Prozession leben. Zumindest letztere Fortbewegungsart ist aber mehr als blosse Herrschaftslist. Die Prozession führt an kein klares Ziel, sie genügt sich selbst, sie setzt tief liegende Wünsche frei und das macht sie so unwiderstehlich, so dynamisch. Warum also nicht einreihen, mitlaufen, zuhören, selber erfahren? Jede Prozession hat ja Start und Ziel und Zwischenhalte – Gelegenheiten genug, sich über das Wohin und das Warum zu befragen.

 

Am Start: Weil Bewegung Leben ist

Prozessionen sind Glaubenssache. Gerade auch dort, wo Glauben manchmal schwer fällt. Am 1. Mai wehen die Fahnen und klingen die Lieder und strahlen die Genossen voller Zuversicht. Vorbei sind zwar die Zeiten, als es Rathäuser oder Zunftstuben zu stürmen galt. Die Linken sind Teil der Macht, die Welt ist kompliziert geblieben. Auf der Strasse demonstriert man nicht mehr gegen das System, man demonstriert bloss noch Präsenz, verlangt die Respektierung des Wählerwillens. Doch immerhin scheint solcher hier zu existieren, in diesen Marschreihen. Wo sonst wird der Wille zu Solidarität und Gerechtigkeit derart erlebbar?

Prozessionen schlagen Brücken über Abgründe. Denn auch in demokratischen Gesellschaften lauert Gewalt, bereit zum Ausbruch. Deshalb wird sie hier vorgeführt und inszeniert. Im Takt wippen die Majoretten, knallen die Stiefelabsätze, marschieren die Tambouren und schieben sich die Cliquewagen vorwärts. Defilées und Cortèges sind gewissermassen eine zivilisierte Variante des Todesmarsches. Prozessionen ziehen eben nicht nur zum Wohle des Grössten über Felder und hin zu Altären. Sondern auch zur Rettung der Stadt hinaus, mit den Ratten im Gefolge. Oder zur Rettung der Ordnung die glitschigen Treppen empor zum Opferstein, den Sündenbock mit sich zerrend.

Prozessionen lassen sich nicht erfinden. Sie finden statt. Weil die Träume vom gemeinsamen Fortgehen älter als unsere Geschichtsbücher sind. Im Grunde beruht die christlich-jüdische Kultur auf einer Erfahrung der Heimatlosigkeit, der ewigen Suche. Wir sind Pilger auf dieser Welt und wir kennen den Zug nach Süden. Deshalb stehen sie nächtens schlaflos im dunklen Wohnzimmer, die Bahnanstösser hinter den Schallschutzwänden, horchen der rollenden Landstrasse nach und rätseln über die Inhalte der plombierten Transportwaggons.

Erste Station: Weil Gemeinschaft ansteckend ist

Vieles beruht auf geteilten Erfahrungen. Alleine mag doch niemand der alltäglichen Einsamkeit entfliehen. Jeden Samstag läuft deshalb die Stadt aus und ergiesst sich von Parkplätzen aus in die Landschaft. Spätnachmittags beginnt dann die Gegenbewegung: der Strom schwarz gekleideter Theaterbesucher, der rot-blaue Bannerzug zum Stadion und die Flaniershow knapp berockter Teenagerreihen in der Kinomeile. Prozessionen sammeln solch suchende Bewegungen der Individuen und verleihen ihnen Form. So verbinden sich lndividualität und Gruppe: Ich tanze gerne alleine, aber ungern alleine auf der Tanzbühne. Der Herdentrieb ist an sich labil, immer wieder brechen einzelne aus, zweifeln, schweifen ab, suchen das Glück auf eigenen Wegen. Deshalb müssen Gemeinschaften in Bewegung bleiben, um nicht auseinander zu bröckeln.

Vieles mündet in Ekstase. Ob an Fronleichnam, während der Fasnacht oder der Street Parade, die Erregung der Laufenden gleicht sich. Man reibt sich aneinander, die Leiber kommen sich nah und verschmelzen doch nie ganz. Teilnehmer und Zuschauende ziehen sich an, laden sich auf, begehren sich und bleiben in der eigenen Erschöpfung zurück. Man könnte das auch erotikfrei und vereinsausflugsmässiger als „Höhepunkt des Gemeinschaftserlebnisses“ umschreiben. Leicht skeptisch (oder neidisch?) fragt sich dann der Beobachter: Seid ihr Lemminge oder Wildgänse? Hebt ihr ab ins oder übers Meer?

Vieles beruht auf Wachstum. Prozessionen veranschaulichen, wie Bewegung Masse schafft – und Macht. Ein Tropfen ist nichts, wer spürt ihn denn. Zwei Tropfen fallen vielleicht auf. Ohnmächtig bleiben sie noch lange. Erst wenn du sie nicht mehr zu zählen vermagst, weil sie ineinander geflossen sind, an dir herabrinnen, ein Meer bilden, erkennst du ihre unaufhaltbare Macht und gibst dich hin. Dabei geschieht kein Wachstum ohne Widerstand, so wie ohne Ufer kein Fluss sich zur unbezähmbaren Kraft anstauen kann. Was den unbeteiligten Rändern entrissen wird, schafft neue Masse. Die Prozession fliesst zäh und kraftvoll durch die Strassen. Doch sobald sie das Dorf verlässt, öffnen sich erste Lücken zwischen den Marschierenden, der Faden in der Landschaft dünnt sich aus.

Zweite Station: Weil Taktgefühle menschlich sind

Und nun äussert jemand die Vermutung: Rhythm is it. Die Musik spielt nach dem Takt der Schritte. Und dort wo niemand aufspielt, entsteht durch das Schlurfen der Schuhe eine Ordnung für die Stille, eine Struktur für die Zeit. Prozessionen sind Eroberungszüge: Mit jedem Schritt erhält die Welt mehr Profil, gewinnt der Raum an Grenzen. Wie liesse sich die Unendlichkeit denn begreifen und aushalten, wäre da nicht ein Fixpunkt, ein Voranschreiten, ein Ausgreifen und Erobern zu zweit und mehr? Der Gleichschritt hebt die Laufenden über die Unregelmässigkeiten des Alltags hinweg, wird zum Schrittmacher von Glücksgefühlen.

Und nun taucht die Erinnerung auf: Das Wandern zu mehreren war meine erste Lust. Mutters Herz und meines klopften im Gleichtakt, ich folgte ihren Bewegungen. Auf der Schulreise oder auf dem Weg vom Kindergarten zum Park liefen wir Hand in Hand, singend. Präzis waren die Zeitangaben auf den gelben Wegweisern, vorhersehbar die Pausen im Felsschatten, gemessen Vaters Schritt. Und wieder höre ich mit geschlossenen Augen das Knirschen von Hufen auf den steinigen Pfaden, den Klangteppich der mächtigen Kuhglocken auf ihrer Reise hinauf zum Maiensäss.

Und nun verkündet einer die Botschaft: Auch Revolution ist eine Taktfrage. Wehe, wenn wir nicht mehr im Gleichschritt marschieren, nicht mehr dem fernen Ziel oder der staatlichen Ordnung vertrauen, sondern die Lust am lauten Stampfen entdecken. Schon gellen Rufe wie „Wir sind das Volk“, Mauern erweisen sich als überwindbare Hindernisse. Nur Zyniker verweisen darauf, dass vielleicht schon bald wieder ein neuer Takt angegeben wird, ebenso verlockend wie der alte einst war, ebenso bald monoton und abstumpfend wirkend.

Gegen Schluss: Weil wir von Hoffnungen leben

Daran führt leider kein Weg vorbei: Prozessionen werden auch als Triebhemmer benutzt. „La vie est un long fleuve tranquille“, heisst es dann. Wer solches predigt, verzichtet auf die Entladung von Stauseen und auf Dammbrüche und schwärmt vom Meer: Dort jenseits des Horizonts liegt das Ziel, übt euch in Geduld, auf euch wartet das Paradies und dann geht die Post ab, aber erst dann. Lauft trotzdem weiter, bleibt nicht stehen. Denn wer rastet, rostet – steht auf den Gesetzestafeln des Kapitalismus.

Das hält viele in Schwung: Wir leben hier in einer Kultur, in der das Denken nach vorne, der Erlösung zu, strebt. Jede Prozession erinnert uns an die existenzielle Enttäuschung, dass wir als Menschen nie ankommen. Am Schluss sind wir müder, glücklicher vielleicht, auf jeden Fall immer noch unterwegs. Und deshalb bergen auch so abgesteckte Wege wie jene einer Prozession, so ritualisierte Formen wie jene einer Prozession, einen Keim von Freiheit in sich. Denn solange die Musik spielt, ist Bewegung da. Solange die Musik läuft, zählt die Gegenwart. Solange ich die Musik spielen höre, so lange bleibe ich unsterblich.

Die Prozession läuft aus. Ob ich noch einmal mitmarschieren würde?

Erschienen in: Nachtschicht. Klangprozession für eine Juralandschaft. Festival Rümlingen 2007, Programmheft, S. 6-9 (Pfau-Verlag).