Zum Bild

"Die Nottaufe", anonym, 1833

Ein Bild als historische Quelle ernst nehmen, kann zuweilen mehr Fragen aufwerfen als man ahnt. Denn die Analyse von Verfasser, Auftraggeber, Motiv und beabsichtigter Aussage ist bloss einer, wenn auch ein zentraler Teil dieser Aufgabe. Doch wie lässt sich aus der historischen Distanz rückschliessen, wie die Zeitgenossen das Bild verstanden haben? Ein Schulbeispiel für diese Problematik könnte die obenstehende Radierung sein. Der Künstler ist unbekannt, einen eigentlichen Titel trägt die Karikatur nicht. In der neueren Sekundärliteratur wird das Bild unter Die Nottaufe geführt und auf das Jahr 1833 datiert. Was es darstellt, lässt sich in etwa folgendermassen beschreiben: Im Bett liegt eine Frau in Wehen, umgeben von Geburtshelfern. Im Vordergrund eine Taufszene mit dem ersten Neugeborenen, einer Missgeburt, daneben verschiedene Dienstboten. Einige der Figuren sind offensichtlich als Frauen verkleidete Männer. Das Interieur des Raumes ist zusammengesetzt aus unterschiedlichsten Möbelstücken, Gemälden und Haustieren, zum Teil beschriftet. Alles in allem eine Szenerie voller Anspielungen und versteckter Hinweise.

 

Wie diese genau zu lesen seien, darüber aber sind sich die Betrachter uneinig – damals wie heute. Philipp Kaenel vertrat 1998 die Meinung, es handle sich um die Verspottung der basellandschaftlichen Kantonsgründung. Walter Dettwiler konterte 1999, das Bild stelle eine konservative Abrechnung mit Liberalen und Radikalen im gesamtschweizerischen Kontext dar, vor dem Hintergrund der gescheiterten (liberalen) Revision der Bundesverfassung 1833. Beide Interpretationen stützen sich auf die Identifizierung der abgebildeten Personen und die Auslegung der einzelnen Gegenstände. Einigkeit herrscht darüber, dass die Magd links Stephan Gutzwiller sei; der Geistliche im Vordergrund der Thurgauer Pfarrer Thomas Bornhauser; der Geburtshelfer mit den Zangen Ignaz Paul Vital Troxler; die Hebamme neben ihm der Luzerner Kasimir Pfyffer; und als Taufpatin mit der Missgeburt in den Armen vorne Heinrich Zschokke. Wie das Personal, so sind auch die Objekte als Symbole für oder Anspielungen auf Verfassungskämpfe gemünzt. Etwa die beiden Hunde vorne links („Appenzeller Zeitung“ und „Eidgenosse“), der enthauptete Tell, das vom Spinnennetz überzogene Rütlischwur-Gemälde.

Buser oder nicht?

 

Der Deutungskonflikt dreht sich vor allem um die Frage, ob schweizerische oder baslerische Ereignisse das Hauptziel des Spötters gewesen seien. Ausschlaggebend für die jeweiligen Interpretationen ist die Bestimmung jener Figur, welche die Helvetia stützt. Ist es nun General Buser, herausragende Persönlichkeit in den Basler Trennungswirren, oder ist es der St.Galler Regierungsrat Baumgartner? Diese Frage ist nicht neu, denn bereits im 19. Jahrhundert kursierten unterschiedliche Interpretationen. Ein Zettel mit einer Erklärung zum Kupferstich, aufgrund der Handschrift in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datierbar und aus dem Tresor des Liestaler Gemeindepräsidenten stammend, behauptet: Ganz links sei Anton von Blarer zu sehen, der Apotheker im Türrahmen sei Johann Jakob Debarry, der Taufzeuge vorne Niklaus Singeisen, der „Vater“ eben Jakob Buser – alles Köpfe der Baselbieter Unabhängigkeitsbewegung. Nur gerade vier von elf Figuren will der unbekannte Autor dieser Deutung als Politiker anderer Kantone erkennen.

 

Viel vager, aber ausführlicher argumentiert demgegenüber ein gedruckter Zettel aus den Beständen der Burgerbiliothek Bern, ebenfalls ohne Autoren- oder Datumsangabe, doch eindeutig ins 19. Jahrhundert weisend. Hier werden keine Namen genannt, sondern die bildlichen Anspielungen verbal wiederholt. Die Figuren werden dabei aber stärker in den nationalen Kontext gestellt. Die Rede ist von einem besorgten Papa, „einem Verfassungsrath vom Lande“. Buser oder Baumgartner? Eine zweifelsfreie Identifikation ist auch hier nicht möglich.

Rezeptionsforschung

 

Endgültigen Aufschluss über die intendierte Bedeutung der Karikatur könnte wohl nur ein ausführlicher ikonographischer Vergleich mit zeitgenössischen Portraitversionen geben – auch wenn der Zettel aus Liestal behauptet, „Die Köpfe sind Portrait und sind alle sehr ähnlich“. Es gälte den Verfasser und das genaue Werkdatum herauszufinden. Fest steht letztlich vor allem: bereits die zeitgenössischen Interpreten des Bildes wiesen ihm unterschiedlichen Sinn zu. Gerade Karikaturen mit ihren versteckten Verweisen und Anspielungen dürften schon zur Entstehungszeit zu Umdeutungen verlockt haben. Der offensichtliche Interpretationsspielraum des 19. Jahrhunderts bei der Lektüre der „Nottaufe“ verweist auf ein Wesensmerkmal der Quelle „historisches Bild“: erst über die Analyse der Betrachtungsweisen erschliessen sich mögliche gesellschaftspolitische Bedeutungen eines Bildes.

 

Erschienen in: Geschichte 2001. Mitteilungen der Forschungsstelle Baselbieter Geschichte, Nr. 29, Dezember 1999, S. 6-8.