Der amerikanische Traum

Eine wahre Geschichte nachempfunden

Der kleine Raum liegt noch ganz im Dunkeln. Kaum merkbar sickert Licht durch die Fenster hoch oben über dem Portal. Draussen wird es Tag, vielleicht singen die Vögel schon. Auf dem kühlen Steinboden liegt ein glatter gelblicher Schimmer. Fast wieder still, nur noch das schwache Schlagen eines Herzens. Ein Freitagmorgen 1927, in der Vorhalle der Kirche zu Laufen. Soeben hat sich Ludwig Schmidlin zwei Kugeln in den Kopf geschossen. Noch atmet er, bewusstlos überlebt er im Spital noch einen Tag und eine Nacht. Es ist kein schöner, kein einfacher Tod. Zweimal hat er abgedrückt, hat er sich Gewalt angetan, um sich endlich zum Schweigen zu bringen. Bis dann, endlich, vielleicht: die Stille. über dem Kirchenportal breitet ein steinerner Jesus einladend seine Arme aus, eine übermenschlich grosse Geste aus Barmherzigkeit und Bedauern. Ludwig Schmidlin ist an ihm vorbeigelaufen, in die Kirche hinein und wieder hinaus. Am Ende bleibt er im Vorraum zurück. ein hoher enger Schacht, noch nicht heilig und nicht mehr ungeschützt, der letzte Ort. Auf den polierten Steinplatten scheint die dunkle Blutlache zu atmen.

 

Ludwig Schmidlin, 48 Jahre alt, ledig, stirbt am 20. August 1927 im Feningerspital Laufen. Eine diskrete Todesanzeige wahrt den Rahmen: Für die vielen Beweise der Teilnahme beim Hinschiede unseres lieben, unvergesslichen Sohnes, Bruders und Onkels etc. Keine Blumen, kein Pfarrer. Auch die Behörden verlieren nicht viele Worte. Ordnungsgemäss erstellt der Regierungsstatthalter einen kurzen Beicht: Freitag den 19. August 1927 um 5,3/4 Uhr begab sich Schmidlin Ludwig, geb. 1878, Fabrikarbeiter von und wohnhaft in Laufen, in die römisch-katholische Kirche zu Laufen. Laut Aussage des Pfarrers sei Schmidlin einige Male im Innern herumgelaufen, habe sich dann in die Vorhalle der Kirche begeben. Kurze Zeit später sei ein Schuss gefallen und ca. 5-6 Minuten später ein zweiter. Todesursache: Selbstmord, infolge alter Wahnvorstellungen. Vor etwa 10-20 Jahren habe sich Ludwig Schmidlin vorgenannt am Ziegelmeister der Tonwarenfabrik Laufen in absolut grundloser Weise einer schweren Misshandlung schuldig gemacht. Die damalige psychiatrische Begutachtung ergab, dass er zwar nicht unzurechnungsfähig gewesen war, jedoch von Vater- wie Mutterseite her erblich schwer belastet. Er habe dann Arbeit in Hochdorf in einer Ziegelei gefunden, wo er 1926 infolge eines Unfalls austrat und eine Rente erhielt. Er kehrte zurück zu seiner Mutter nach Laufen und verbrachte seine Zeit mit Nichtstun, was seine Wahnideen steigerte. Wahrscheinlich habe Schmidlin den Selbstmord schon länger geplant, der Pfarrer sah ihn schon seit Tagen frühmorgens um die Kirche herumkreisen. Ein Leben wird zur Krankengeschichte. Patient tot, Fall abgeschlossen, Dossier zu. Doch es bleiben Zweifel. Vielleicht litt Ludwig Schmidlin auch an einem Unwohlsein, das nicht aus seiner Erbmasse kam: am Unverständnis und an der Gewalt seiner Umwelt?

 

Phototermin, irgendwann im Jahr 1895. Vor der Tonwarenfabrik Laufen hat sich die Belegschaft in Reihen aufgestellt, die Buben sitzen am Boden, Frauen und Männer stehen separat. Untätig hängen die Hände hinunter, manchmal am Gilet Halt suchend, manchmal in die Seite gestemmt. Gut 80 Köpfe zählt die Firma, erst 3 Jahre nach ihrer Gründung. Bald wird auch Ludwig Schmidlin hier eintreten, vorerst als einfacher Arbeiter. Auf den Gesichtern seiner zukünftigen Genossen liegt ein schwer erkennbarer Ausdruck, Unbehagen oder Stolz? Auch der Fabrikgründer und Direktor, vorne rechts auf seinem Stuhl, blickt eher abwartend in die Kamera. Grund zur Freude hätte er genug, denn das Geschäft floriert und er ist ein gemachter und angesehener Mann. Ob in Käsereigesellschaft, Kirchenrat, Abstinentenliga oder Gemeinderat, fast überall ist er dabei und seine Stimme wird gehört. Auch im Betrieb, den er als Patron der alten Schule führt. Fürsorglich wacht er über das Wohlergehen und die Sittsamkeit der Arbeiter. Und im gleichen Atemzug preist er auswärtigen Investoren sein Heimattal als Paradies für Kapitalisten an. Es herrschten denkbar günstige Arbeitsverhältnisse, viele Leute, niedrige Löhne und praktisch keine gewerkschaftliche Organisation. Keine Aufmüpfigkeit zu fürchten. Im eigenen Betrieb gilt die Parole seiner Partei, der konservativ-katholischen. Die 80 Köpfe auf der Photographie wissen, was sie stimmen sollten. Die Gesichter bleiben stumm.

 

Ludwig Schmidlin passt sich gut ein, als er 1901 hier zu arbeiten beginnt. Gleich nach der Schule hat er die Schwelle zur Fabrik überschritten. Die Lehre als Gipser bricht er bald wieder ab, der Lohn ist ihm zu gering. In der Tonwarenfabrik arbeitet sich Schmidlin empor, man vertraut ihm schliesslich die Gipsformerei an. Allein in einem Raum, eine staubige Arbeit, aber jedes Jahr etwas mehr in der Lohntüte. Während zehn Jahren verläuft das Leben des Schmidlin Ludwig zwischen Fabrikhalle-Mutterhaus-Wirtshaus, ohne dass es Anlass zur Besorgnis gäbe. Doch am 16. Juni 1901 ändert sich das schlagartig. In der Tonwarenfabrik wird Ziegelmeister Pfrommer von hinten niedergeschlagen. Niemand hat den Täter gesehen, aber alle Verdachtsmomente weisen in Richtung Ludwig Schmidlin. Mehrere Arbeiter bezeugen, er sei zur fraglichen Zeit in der Nähe des Tatortes gewesen. Später habe man ihn aus der Fabrik hinauslaufen sehen, etwas (die Tatwaffe?) unter der Schürze verborgen. Dann findet man auch noch Blutspuren an seiner Kleidung und jetzt lässt ihn der Regierungsstatthalter verhaften. Totschlags-, ja Mordversuch lautet die Anklage. Doch Schmidlin gibt nichts zu, will sich nicht erinnern können und wiederholt trotzig, man solle es ihm beweisen. Mögliche Zeugen werden befragt, andere Arbeiter, die Mutter, der überfallene Ziegelmeister selbst. Die Aussagen helfen zwar wenig, den Tathergang zu klären. Doch Stück für Stück entsteht so im Spiegel seiner Umwelt ein bestimmtes Bild: Einzelgänger, Sonderling, nervös, reizbar, nie fröhlich, als ob ein heimlicher Gram an ihm nage… Niemand hat wirklich Grund zur Klage, aber man ist sich einig, dass Schmidlin wohl nicht ganz normal sei, immer fühle er sich verfolgt. Vermutungen und Beobachtungen verdichten sich, bis man sein Tatmotiv zu sehen glaubt: die Neckereien und kleinen Plagereien des Ziegelmeisters gegen Schmidlin. Gefuxt habe der ihn, immer wieder, vor allem in diesen Junitagen 1915, als es um die Kirchenratswahlen ging. Die Kirchgemeinde Laufen scheint zerstritten, alle Kirchenräte haben demissioniert. Offenbar will eine Fraktion den Pfarrer abwählen und nun wird geweibelt und geworben. Auf dem Vorstadtplatz, in der Gipsformerei, vor der Wirtschaft, überall treten sie an Schmidlin heran und fordern ihn auf, er müsse stimmen gehen. Ausweichen nützt nichts, am Wahlsonntag sucht man ihn gar zu Hause heim. Ludwig Schmidlin verweigert sich und das verzeihen ihm die anderen nicht so schnell. Nach der Wahl schimpfen die Verlierer laut auf den chaibe Luskaib, den Fotzelchaib, auf den nie Verlass sei, der nichts tauge. Und der Ziegelmeister, obwohl er selbst für den Pfarrer ist, stimmt ein in den Chor, spottet über den Getadelten. Ludwig Schmidlin schweigt, aber er kommt nicht mehr zur Ruhe. Nachts schläft er kaum, am Morgen streift er durch das Städtchen, trinkt ungewohnt viel Bier. Und dann schlägt er zu.

 

Mit einem Schlag macht sich Ludwig Schmidlin Luft. Doch danach ist er wieder gefangen, zwischen Trotz und Reue. Dreimal wird er verhört, dreimal weicht er aus. Und er bleibt sehr aufgeregt, kaum sitzt er in der Gefängniszelle, weint und heult er fast ohne Unterlass. Immer lauter werden die Stimmen ind Schmidlins Kopf. Die Mutter glaubt er zu hören, er belauscht angebliche Gespräche draussen und will hören, wie man über ihn redet. Pfrommer sei gestorben, das kann ihm keiner mehr ausreden. Und er klagt über das Zucken im Kopf, wie Würmer, man habe doch immer gesagt, er sei der gleiche Narr wie die Mutter. Also doch ein Verrückter, der im Wahn zuschlägt? Der Regierungsstatthalter ordnet ein Gutachten an. Zwie Wochen lang bleibt Schmidlin in der Irrenanstalt Bellelay. Er wird beobachtet, befragt, vermessen, und dann gibt der Psychiater sein Urteil ab: Es handle sich um eine akute Gefängnispsychose, den berüchtigten Zuchthausknall. In der Anstalt habe sich Schmidlin ruhig verhalten, man konnte ihn im grossen Schlafsaal lassen, er hilft mit bei Wartungs- und Aufsichtsarbeiten. An Intelligenz mangelt es ihn laut Gutachten keineswegs, die Bildung ist erstaunlich hoch, ebenso das Gedächtnisvermögen. Kein Trinker und ein williger Schaffer. So solid wie bei Schmidlin ist die Lebensführung eines Arbeiters seines Standes sonst keineswegs. Doch das ständige Misstrauen und die Unleidigkeit sind für den Arzt typische Zeichen einer Psychose. Das sei kein Wunder, bei diesen Familienverhältnissen: Grossvater und Vater Schmidlin haben sich beide umgebracht, die Mutter gilt als hysterisch und soll schon längers in der Friedmatt, der Basler Irrenanstalt, interniert gewesen sein. Im Heimatdorf der Mutter spricht man nur noch von der Sippe der Gurgelabschneider. Da scheint für viele der Weg des Sohns vorbestimmt. Der Volksmund nennt ihn verschlossen, der professionelle Blick des Mediziners sieht die Schwachstelle bei den Nerven. Schlaflosigkeit, ungewöhnlich starke Reflexe der Kniescheibe, Zuckungen des Augapfels, ein eingeschränktes Gesichtsfeld – ein klassischer Fall hochgradiger Psychopathie. Schmidlins Überempfindlichkeit heisst hier Verfolgungswahn. So wird aus dem Gerichtsfall Ludwig Schmidlin ein Krankheitsfall. Auch der Untersuchungsrichter beugt sich dem Urteil des Mediziners. Wer auf harmlose Kindereien wie die Neckereien Pfrommers derart gereizt reagiere, sei zwar nicht geisteskrank, doch gewiss anormal. Von Mordversuch kann deshalb nicht die Rede sein, es bleibt beim versuchten Totschlag, Widerspruch wird nicht laut, Urteil, Unterschrift, Stempel auf die Akte. Über die möglichen Motive Schmidlins braucht man kein Wort mehr zu verlieren. Wenn einer die Normalität nicht erträgt… Niemand nimmt seine Wahnvorstellungen ernst.

 

Schon am ersten Tag der Untersuchungshaft klebt Ludwig Schmidlin am Fenster seiner Zelle. Er schreit heraus, was er nicht mehr aushält, er tobt, weint. Schuldgefühle plagen ihn und er wird die Stimme seiner Mutter nicht los. Als sie ihn besucht, steigert sich Schmidlins Entsetzen, als befürchte er, nie aus diesem Bannkreis wegzukommen. Als einziger Nachkomme lebt er noch bei der verwitweten Mutter. Zwei Schwestern haben sich auswärts verdingt, die dritte ist samt Ehemann im Streit ausgezogen vor kurzem. Lust zum Heiraten hätte der mittlerweile 37jährige schon gehabt. Dann wäre er auch fort aus diesem engen Tal, weg nach Amerika, vielleicht. Seit längerem stehe er in Bekanntschaft mit Theresia Karrer, auch deshalb neckt ihn der Ziegelmeister gerne. Sie arbeitet in der Kantine der Tonwarenfabrik. Manchmal hilft Ludwig Schmidlin ihr, die vollen Bierfässer zu heben. Ob er sie liebt, sie ihn? Nie wird Theresia Karrer heiraten, ledig wird Ludwig Schmidlin sterben. Wenn er geheiratet hätte, wenn die Politik und die Stimmerei nicht gewesen wären… Ludwig Schmidlin träumt von Amerika, von Anerkennung, vom Ausbrechen aus dem mütterlichen Schatten, von Liebe. Er hätte heiraten sollen. Doch daran hindern ihn die Mutter und der Lohn, Pole, um die sich Ludwig Schmidlins Welt zu drehen scheint. Über seine Lohntüte weiss er immer genau Bescheid, davon erzählt er oft. Geld bestimmt den Wert eines Menschens. Schmidlin meint, er hätte mehr Lohn verdient – mehr Anerkennung, mehr Freiheit? Ein Arbeiter seines Standes hat 55 Centimes Stundenlohn zugute. Der Meister hat das Sagen und kassiert gut das Dreifache im Monat. Vom Portefeuille des Direktors ganz zu schweigen. In Laufen gilt die Familie Schmidlin wenig, niemand mag ihr Bürge stehen, als Mutter Schmidlin ein kleines Haus kauft. Ludwig muss sie unterstützen, die Hauszinsen zahlen. Dann macht er Verluste in der Lotterie. Alles dreht sich ums Geld, wenigstens gibt es noch Lohn. Amerika ist weit weg und ungewiss, die Sehnsucht nach Liebe und Freiheit erstickt im Kleingeld.

 

Da wirkt es nur folgerichtig, wenn Ludwig Schmidlin seinen Ausbruch teuer bezahlen muss. Ziegelmeister Pfrommer fordert 1’000.- Franken Schadenersatz, die Gerichtskasse knapp 500.- Franken Prozesskosten. Vermögen hat Schmidlin keines, er muss Geld aufnehmen und seine Schuld abverdienen. Er verlässt Laufen, aber er entkommt nicht. Nach dem Zuchthaus findet er Arbeit im luzernischen Hochdorf, in einer Ziegelfabrik. Die Welt ist klein und seine Geschichte holt ihn immer wieder ein. Am Ende wird Ludwig Schmidlin das Schicksal beider Elternteile vereinen. Wie sein Vater bringt er sich um, auch er ein Opfer der modernen Technik: 1891 gerät Johann Schmidlin unter die Räder beim berühmten Eisenbahnunglück in Münchenstein. Jahrelang krankt er an dieser Verletzung herum, bevor er sich 1901 erhängt. Und als Sohn seiner Mutter leidet Ludwig Schmidlin ebenfalls an Reizbarkeit und Über-Empfindlichkeit, man meidet ihn und stempelt ihn ab. In Hochdorf kümmert sich zwar niemand um Schmidlins Herkunft und anfangs scheint alles gut zu gehen. Ludwig Schmidlin arbeitet an der Revolverpresse. Unaufhaltsam rotieren die Ziegelformen: Tonkuchen aufklatschen, der Ziegel wird gepresst, ein Messrahmen schneidet die Ränder ab, aus der Form nehmen, Form putzen und von neuem. Wer nicht aufpasst, dem zerquetscht die Maschine bald die Hand. Ludwig Schmidlin kennt sich aus, er beherrscht sein Metier und die Maschine. Wehrlos bleibt er gegen die Gewalt der Menschen. Nach zehn Jahren schlägt sie zu: Die Presse ist defekt, der Werkführer schimpft und der Mechaniker pfuscht. Als Schmidlin die kaputten Gipsformen herausnehmen will, zerschlägt ihm der obere Schlitten die rechte Hand. Doch das ist erst der Anfang. Der verantwortliche Vorgesetzte, Ziegelmeister Halbeisen, macht im Unfallrapport aus seiner eigenen Nachlässigkeit ein technisches Versagen – damit die Versicherung zahlt und damit die Firmenleitung ihn nicht tadelt. Schmidlin fügt sich. Als er aus der Klinik zurückkommt, bestimmt ihn der Verwaltungsratspräsident zum Vorarbeiter. Doch Ziegelmeister Halbeisen wird ausfällig und droht Schmidlin. Auch wenn Halbeisen die Kündigung auf Ende 1926 schon in der Tasche hat, seine Macht über Schmidlin ist ungebrochen. Schmidlin schweigt. Erst viel zu spät begehrt er auf, er sei nur zu gut gewesen die ganzen zehn Jahre unter Halbeisen. Der schikaniert ihn schon lange, schiebt Fehler ab auf Schmidlins Konto, behandelt ihn grob wie keinen sonst. Sogar die Luzerner Arbeiterzeitung hat Halbeisens Rohheit angeprangert, schon 1922. Diesmal erhält Ludwig Schmidlin nochmals Recht, Halbeisen muss gehen und er selbst wird als unverschuldetes Unfallopfer in Rente geschickt.

 

Im Herbst 1926 kehrt Ludwig Schmidlin zurück nach Laufen. Wohin auch sonst? Die Geschichte von der Entlassung Halbeisens macht hier Skandal, man scheint ihn gut zu kennen. Im Städtchen wird Schmidlin alsbald angesprochen, was denn passiert sei. Jetzt nimmt er kein Blatt mehr vor den Mund, erzählt allen vom fetten Lohn Halbeisens und wie der immer mehr wollte, von dessen Sauftouren und dessen harter Hand. Doch Mitgefühl kommt ihm wenig entgegen. Schmidlin wird misstrauisch. Weshalb tut der Prokurist der Tonwarenfabrik nun so, als wären sie alte Bekannte? Wie Füchse auf ihre Beute gehen sie auf ihn los, grüssen mit falscher Freundlichkeit. Glauben sie ihm überhaupt? Er hat doch Recht! Jeder soll den Lohn bekommen, den er verdient, jeder bekommt einmal genug Platz. Falsche Freunde habe er, warnt der Coiffeur Schmidlin. Es geht ein Gerücht um im Städtchen, vielleicht hält man ihn für mitschuldig oder was weiss er. Ludwig Schmidlin sucht Rat beim Pfarrer, doch der verschliesst sich vor seinen Fragen. Er will sich nicht einmischen, er kann nicht helfen. Und wieder beginnt Schmidlin ziellos herumzulaufen, rings um die stumme Kirche, wie ein gehetztes Tier.

 

Freitag morgen, 19. August 1927. Fein säuberlich notiert der Landjäger, was er neben dem Sterbenden gefunden hat: 1 Revolver mit 3 Patronenhülsen, 1 Briefumschlag mit 3 Briefen. Wirres Zeug stehe darin, meint der Korporal, Schmidlin sei ja geistig nicht mehr ganz normal gewesen. Auch der Regierungsstatthalter interessiert sich nicht für diese letzten Briefe, adressiert an ihn selbst. Seit 1915 weiss man, Ludwig Schmidlin kommt mit der Normalität der anderen nicht zurecht. Jetzt zerstört ihn die Gewalt endgültig, er bringt sich selbst zum Schweigen mit zwei Schüssen in den Kopf. Ludwig Schmidlin stirbt. Genau zwei Monate ist es her, da feierte die Welt den Atlantikflug von Charles Lindbergh, Triumph der modernen Technik. Amerika ist greifbar nah und doch so weit weg wie nie zuvor.

 

Nachtrag
Diese Geschichte ist wahr und erfunden zugleich. Sie beruht auf historisch verbürgten Ereignissen. Daten und Schauplätze sind authentisch, verändert wurden lediglich die Personennamen. Von Ludwig Schmidlins Gefühlen und Gedanken ist wenig überliefert. In den Untersuchungsakten von 1915 und 1927 finden sich Zeugenaussagen, Lebensläufe und eben jene letzten Briefe, in denen Schmidlin vom Unfall schreibt, von Halbeisen und von den Vorgängen in Laufen. Auf ihnen baut mein Versuch einer Nachempfindung auf. Das Quellenmaterial zu dieser Erzählung findet sich im Staatsarchiv des Kantons Basel-Landschaft und im Archiv der römisch-katholischen Kirche Laufen.

Dieser Text wurde erstmals publiziert in den Baselbieter Heimatblättern 63, Juni 1998.