Der Geschmack von Blut

Gewalt, Politik und Erinnerung im Kanton Basel-Landschaft

Am 3. August 1833 herrscht Bürgerkrieg in der Region Basel. In der Entscheidungsschlacht der so genannten Trennungswirren stossen die Truppen von Stadt und Landschaft Basel bei Frenkendorf aufeinander. Unter den Dutzenden Toten, welche an jenem Tag nach der verheerenden Niederlage der Basler liegen bleiben, befindet sich auch der städtische Oberst Lukas Landerer. Über die genauen Umstände seines Todes zirkulieren schon damals unterschiedliche Darstellungen, Erzählungen wie Gemälde. Wie kein anderes Ereignis aus den Basler Trennungswirren wird das Bild vom sterbenden Landerer in den Folgejahren zum Sinnbild. Die Geschichten über diese Tötung geben Einblick in Selbstverständlichkeiten und Arten von Gewalt – für die damalige Zeit wie auch für die Geschichtsschreibung bis heute. Und sie rufen in Erinnerung, dass die Gründungsgeschichte des Kantons Basel-Landschaft über weite Seiten mit Blut geschrieben ist.

 

Schlachtberichte

 

Im Morgengrauen des 3. Augusts 1833 ziehen knapp 800 Mann städtischer Truppen von Basel los Richtung Liestal. Hinter Pratteln, bei der so genannten Hülftenschanz, bleibt ihr Vormarsch infolge der Gegenwehr basellandschaftlicher Bewaffneter stecken. Als die Basler sich gegen Mittag zurückzuziehen beginnen, geraten sie in immer stärkere Bedrängnis. Auf der Höhe von Muttenz, im Hardwald, fällt Oberst Landerer.

 

[Innen: Die Zunge klebt am Gaumen, überall Staub, Pulverdampf sticht, nur weg hier, Gebrüll, tief im Bauch, Detonationen, Schweiss rinnt in die Augen, taub, Schlag, feucht, würgen, leuchtend rot, der metallische Geschmack]

 

Damit hört die Geschichte von Lukas Landerer auf und es beginnt die Legendenbildung. Es erzählt der Liestaler Drucker 1875: „Er [Landerer] ritt in den hintersten Reihen – in einem Moment wurden Ross und Mann getroffen, er wurde vom Pferd heruntergerissen. Sein rechter Arm ist durchschossen; er rafft sich auf, ergriff den Säbel mit der Linken und beginnt ein Handgemenge mit Oberstlieutenant Blarer. Endlich sieht Landerer sein Verderben unvermeidlich; ‚ich will euch ja geben, ich willl geben‘, sagte er. ‚Was geben? Wir wollen nichts von dir‘, war die Antwort. Er springt nochmals vom Boden auf. ‚Muss ich denn sterben!?‘ ‚Ja sterben ohne anders‘ und er lag in seinem Blute dahin gestreckt.“ Es erzählt der Baselbieter Landrat 1888: „Sein Schwager, Oberst Landerer, hörte von dem Unglück [Tod Oberst Wieland] und eilte zurück, um den Gefallenen noch zu sehen. Da erhielt sein Pferd einen Schuss in den Hinterbacken und sass zu Boden. Während der Oberst unter Mithilfe eines Garnisönlers mit einem unterhaltenen Gewehre das Thier zu heben suchte, waren die Verfolger herangeeilt. Da riss er die Pistole aus der Halfter und stellte sich mit derselben und gezogenem Säbel den beiden vordersten Feinden, Dill und Hohler, entgegen, deren gleichzeitige Schüsse aber seine rechte Hand zerschmetterten und den Unterleib durchbohrten. Er sank lautlos und ein Kolbenschlag in den Nacken machte seinem Leben sofort ein Ende. Er war schon halb ausgeplündert, als Jakob Blarer mit den Seinen herbeistürzte und den erhobenen Säbel sinken liess. Eilig jagten Alle weiter, neuen Opfern nach.“

 

Es erzählt der Bubendörfer Hauptmann 1895: „Oberst Landerer fiel schon um 11 ½ Uhr in der Hardt. Der Hergang wurde damals verschieden dargestellt. Die einen behaupteten: Blarer hätte Landerer mit einem Säbel verwundet u es hätte Landerer Pardon verlangt. Andere behaupten Landerer habe um Pardon gebeten, Blarer aber denselben verweigert mit den Worten: ‚Heut gibt’s keinen Pardon, eure Sünden sind zu gross‘. Eine andere Darstellung lautete: Blarer habe Landerer Pardon angeboten; der letztere aber denselben abgelehnt und im Gegenteil Blarer gebeten, ihm dem Schwerverwundeten den Todesstoss zu geben. Ein gewisser Friedrich Hohler, genannt ‚Kannefriedli‘ von Wegenstetten, hat das Pferd Landerers erschossen. Landerer hatte einen Schuss in den Rücken und einen durch die Hand erhalten. Es waren noch dabei: Heinrich Dill von Arisdorf, welcher Landerer erschossen haben soll; er hatte wenigstens Landerers Pistole, u andere.“

 

Es erzählt der Reinacher Soldat 1895: „Dieser gleiche Suppenliseli [Hauptmann Gschwind aus Therwil] soll auch in der Hardt den Oberst Landerer getötet haben, u es habe Oberst Landerer demselben sterbend noch den Undank vorgehalten, weil Landerer bishin von Suppenliseli Heu und Hafer bezogen und demselben den Pferdemist umsonst überlassen habe. Oberst Blarer hatte mit dem Tode Landerer nichts zu tun und scheint derselbe mit Hauptmann Gschwind Suppenliseli nachher verwechselt worden zu sein.“

 

Es erzählt der Basler Historiker 1910: „Da traf ein Schuss sein Pferd, und indess er hinter den letzten zurückblieb, um das verwundete Tier wieder aufzurichten, sah er sich unversehens von Feinden umgeben. Ein Pole, der ihn retten wollte, nahm ihm als seinem Gefangenen den Säbel ab. Doch als er sah, dass er ihn vor der Wut der Landleute nicht zu schützen vermöge, gab er in ritterlicher Entrüstung dem Gefangenen die Waffe zurück, damit er wenigstens nicht ohne Gegenwehr könne gemordet werden. Wirklich erwehrte sich Landerer noch eines Gegners durch einen Hieb über den Kopf. Doch zugleich trafen ihn mehrere Schüsse, deren einer ihm die rechte Hand, ein anderer aber von hinten den Rückgrat durchbohrte, und in demselben Augenblick erschien der ihm als Freund seines Sohnes wohlbekannte Jakob von Blarer. Vom unsäglichen Schmerz des verletzten Rückgrats übermannt, schrie er denselben an, der Qual ein Ende zu machen, und diesen Wunsch erfüllte Blarer durch einen Schuss ins Herz. Die Wut auch der Rohesten konnte daher nur noch in der Ausraubung und Misshandlung der Leiche sich austoben.“

 

Was stimmt nun? Oberst Landerer ist tot. Von Oberst Blarer ist allein eine Nacherzählung aus der Feder Dritter überliefert. Die vielen Darstellungen treffen sich nur in wenigen Punkten: Tatort Hard, Opfer Landerer, Tod. Aber: Wurde er erschossen oder erschlagen? Durch von Blarer, Gschwind, Dill oder sonst jemanden? War es Kriegerlos, Gnadenstoss oder Blutrausch? Noch bis ins 20. Jahrhundert löst eine Version die nächste ab. Der Sachverhalt kann nie ganz geklärt werden. Während aber die Diskussion je nach politischer Lage hin und her wogt, bleiben die bildnerischen Darstellungen des Geschehens bis ins 21. Jahrhundert hinein unbefragt. Umso prägender wirkt, was die Bilder vom Krieg zu erzählen scheinen.

 

Bildergeschichte

 

Krieg belebt das Geschäft. Er füllt die Auftragbücher der Zeichner und Lithographen, er schmückt als Heldenporträt oder Schlachtszene so manche Stube. Von den Basler Trennungswirren 1830-1833 gibt es Dutzende solcher Darstellungen: die Beschiessung und Eroberung Liestals 1831, die Scharmützel rings um die Stadt und im oberen Baselbiet, die Schlacht vom 3. August 1833. Wohl am meisten reproduziert und zitiert worden ist bis heute jener Kupferstich Martin Distelis, welcher den „Sieg der Basellandschaft über die Stadt-Basler am 3ten August 1833“ zeigt. Oder eben: den „Tod des Obersten Landerer“.

 

[Das Töten zeigen, Schmerz, Grauen, lithographiert, abgerissene Beine, los desastres de la guerra, die Träume, koloriert, den Geschmack von Blut, die überschrittene Grenze, goldgerahmt, Schreie, das Innere herausgeplatzt, wie, Leiden,]

 

Wie viele Schlachtenbilder Distelis folgt auch dieses einer strengen Komposition und einem berechneten Rhythmus: unübersichtliche Massenhandlung am Rande und dramatisch zugespitzter Zweikampf in der Bildmitte. Aus den Waldrändern links und rechts strömen Männer in unterschiedlichsten Bekleidungen, offensichtlich basellandschaftliche Parteigänger. Im Bildhintergrund wehrt sich, halb in Pulverdampf und Staub verschwunden, eine zusammengedrängte Masse städtischer Soldaten. Den Vordergrund bedecken Gefallene und zwei Kampfszenen, bei welchen der unterlegene Basler jeweils unmittelbar dem tödlichen Hieb oder Stich entgegensieht. Dasselbe scheint sich im Zentrum der Schlacht respektive des Bildausschnittes zu wiederholen. Neben seinem verwundeten, auf die Hinterbeine gesunkenen Pferd kniet Oberst Landerer; die rechte Hand blutet heftig, die linke hält schützend seinen Säbel hoch. Ihm gegenüber in Ausfallschritt Oberst von Blarer, links ein Gewehr am Lauf haltend, rechts mit dem Säbel zum Hieb ausholend. Vom hohen Ross gestürzt ist der Herr, gleich wird er sein Leben hergeben müssen – Distelis Bild lässt keinen Zweifel über die mitzuteilende Botschaft. Der Zeichner machte schliesslich zeitlebens keinen Hehl aus seinem Engagement für die bürgerliche Revolution, nicht nur als agitatorischer Künstler. Bereits 1831 eilte er selbst mitsamt etlichen Freischärlern von Olten her den Landschäftlern zu Hilfe.

 

Auch aus anderen Gründen kann das fragliche Bild freilich keine realistische oder objektive Dokumentation des historischen Geschehens sein. Major Martin Disteli rückte 1833 erst am 8. August ins Baselbiet ein. Die verschiedenen Kriegsschauplätze zeichnete er nachträglich, sozusagen als Dank für die 1833 erhaltene Ehrenbürgerschaft des Kantons Basel-Landschaft. Zwar will er laut eigenem Bekunden vor Ort, geführt von „Augenzeugen“, „Details über den Kampf vom 3. August“ gesammelt haben; die „Kampfweise und das Costume, das des Landvolkes und der Garnisönler, ist treu“. Doch selbst wenn einzelne Sachverhalte mit erzählten Darstellungen übereinstimmen, etwa die Verwundungen von Ross und Reiter, wirkt das Gesamtbild zu stilisiert. Und zu sinnbildlich: Denn es zeigt nicht den Tod des Obersten selbst, hält vielmehr vor diesem Moment des Tötens inne und inszeniert das Figurenpaar als Hauptdarsteller und dramatischen Höhepunkt eben jener „Baseler Niederlage“. Die angebliche Rekonstruktion lässt sich so auch als Sinnbild verstehen. Martin Distelis Feder zieht dabei eine feine Trennlinie zwischen dem normalen Kriegshandwerk, wo Namenslose sterben, und dem Duell der beiden Repräsentanten. Wenn der städtische Herr vor dem revolutionären Landschäftler knien muss, wird der Totschlag zum Akt sozialer Gerechtigkeit.

 

Martin Distelis Bilder sind nicht die einzigen Darstellungen jenes blutigen Augusttages. Bekannt sind auch andere Szenen aus der Feder regionaler Kunstschaffender. Etwa eine Lithographie von Schönfeld, „Die Schlacht an der Griengrube bei Frenkendorf den 3.ten August 1833“; ein Blatt von J. Senn dem Jüngeren, „Kampf zwischen der Stadt und der Landschaft Basel den 3.ten August 1833“. Ein anderes Bild des elsässischen Zeichners Dantzer aus Huningue zeigt die „Retraite des Bâlois du 3 août 1833“, eine bereits in Auflösung begriffene Basler Truppe auf der Flucht – und hinten rechts hineinkopiert die Zweikampfszene Landerer-von Blarer, genau nach Distelis Vorbild. Unter dem Titel „Oberst Landerers Tod“ nimmt J. Senn das Motiv des Zweikampfs erstmals aus ganz anderer Perspektive auf. Sichtbar ist nur der unmittelbare Personenkreis rings um die beiden Gegner. Der knieende Landerer, allein und gleich von fünf Gegnern bedroht, stützt sich mit der linken (!) Hand ab und hält den Säbel rechts empor; von Blarer steht beinahe gelassen mit aufgezogenem Säbel da. Die Szene wirkt viel statischer als Distelis Komposition, gleicht weniger einem Kampf als einer Hinrichtung. Sichtbar wird dies auch in der Gestaltung der Randhandlung, wo ein Landschäftler gleichzeitig einen um Hilfe flehenden Soldaten erschlägt, während nebenan ein gefallener Basler seiner Stiefel beraubt wird. Die Inszenierung von Gewalt vermittelt hier ganz andere Botschaften als in Distelis Bild: bäurische Brutalität und Macht der Masse gegenüber soldatischem Gebaren des Bedrohten.

 

Im propagandistischen Kampf der „Nachkriegsjahre“ sprachen solche Bilder eine deutliche Sprache. Nicht Geschichte zu erzählen war ihr Ziel, sondern die blutigen Ereignisse 1830-1833 je nach Standpunkt zu legitimieren oder zu denunzieren. Die Schöpfungen Martin Distelis und J. Senns markieren die beiden Pole der „visuellen Schlacht“, sind Sinnbilder für die unterschiedliche Bewertung von Gewalt: legitime revolutionäre Strategie oder eben enthemmter, barbarischer Trieb. So oder so, nicht das Blutvergiessen an sich war umstritten, sondern sein Zweck. Der Geschmack von Blut war allgegenwärtig, auch und gerade in den zeitgenössischen Sprach-Bildern, den Propagandaliedern und -texten.

 

Aristokratischer Totentanz

 

„Kommt herbei ihr Schweizer alle, / Jung und Alt und gross und klein; / Vom Tyrannensturz und Falle / Sing ich euch ein Liedchen fein; / […] Samstag war’s, den dritten August, / Als hinaus mit wilder Raublust / Henker zogen auf das Land / Auszuüben Mord und Brand. / […] Piff! Paff! Puff! ging’s, mancher Söldner / Küsste schon den kühlen Grund; / ‚Schiesst die Bauern-Kaiben nieder!‘ / Scholl es aus der Herren Schlund, / […] Und die braven Artill’risten / (Ab der Strass und Gigerschanz) / Spielen Babels Antichristen / Einen schwarzen Todtentanz: / […] In der Flanke angegriffen / Wird ihr Todeslied gepfiffen; / Mancher Herr mit stolzem Sinn / Legt sich hier zum Sterben hin!- […]“ Noch manche Strophe mit solch martialischen Tönen umfasst das Lied „3. August 1833“, produziert von Johann Rudolf Kölner dem Sauren. Gleich wie etwa Johann Georg Krauers „Kampfgesang der Baslerlandschaft am Morgen des 3. August 1833“ ist Kölners Kriegsballade eine nachträgliche Verherrlichung der blutigen Ereignisse. Auffallend die unzimperliche Sprache mit einer hörbaren Lust am Gewalttätigen; auffallend vor allem auch, weil diese Dichtung deutliche Anspielungen auf den Topos des Totentanzes macht. 1831 hatte bereits der Basler Gedeon Burckhardt zu Ungunsten der Landschäftler einen „radikalen Totentanz“ geschrieben, worauf Kölner mit einem Gegenstück, dem „Aristokraten Totentanz“, geantwortet hatte. Die Basler Dichtung folgt dem überlieferten Dialogmuster Tod-Figur und lässt solchermassen alle Protagonisten der Landschaft antanzen und Red und Antwort geben. Der Ton ist moderat: „Der Tod zum Blarer. / Herr Räuberhauptmann, jetzt ist’s aus, / Mit dir und deinen Spiessgesellen / Musst du zum grossen Tanz dich stellen. / Blarer. / O weh, nun muss ich auch davon, / Ich spüre auch die Rache schon / Für meine grossen Sünden, / Für Reigoldswil und Gelterkinden.“

 

Viel weniger zimperlich dann Kölners Totentanz 1832, der schliesst: „Der Tod, den Hades öffnend, zu allen Aristokraten insgesamt: / Juheissa! tanz! du Satanschor! / Dein Höllenqual entzückt mein Ohr; / Hinab! Gesindel! ohn Verschonen! / Zum Hades, samt Reaktionen!“ In Kölners Kriegslied 1833 wird nun das Motiv vom „schwarzen Todtentanz“ vollends zur Hymne der Gewalt. Der Schlachtentod wird ebenfalls als Strafe für begangene „Sünden“ inszeniert. Doch der Gegner ist jetzt „Babel“ (Babylon), die Stadt der „Antichristen“. Und es ist nicht mehr der abstrakte Tod, der Rechenschaft verlangt. Mit „Kugeln, Kolben, Bajonetten“ wird der selbsternannte Freiheitskämpfer zum religiösen Revolutionär: „Wie dem Herren, so auch dem Knechte! / Alle haben gleiche Rechte! / Die hier übten Brand und Mord ! / Müssen miteinander fort!“ Revolutionäre Gewalt wird so zu alttestamentarischer Gerechtigkeit.

 

Mit ähnlicher Wucht und ähnlich religiös verbrämten Schlachtversen feierten ausser Kölner noch zahlreiche andere Autoren, oft radikal-liberale Publizisten ausserhalb des Baselbiets, die Ereignisse zwischen 1831 und 1833. Dass soziale Gerechtigkeit erst der (gewaltsame) Tod schaffe, wurde nicht nur auf dem Papier behauptet. „Wie dem Herren, so auch dem Knechte“ war auch die Losung auf dem Schlachtfeld selbst, beim Umgang mit dem toten Gegner nach dem 3. August 1833. Da sich Landschäftler und Basler nicht über die Herausgabe der Gefallenen einigen konnten, wurden die Leichname der getöteten Städter in ein gemeinsames Grab auf dem Kirchhof Muttenz versenkt. „Ach Herr Je, riefen die Basler aus, legt me denn do die Herre zu de Garnisenlere [Garnisonssoldaten]“ . Unmissverständlich die Botschaft der siegreichen Landschäftler: Der Tod macht alle gleich, im Beinhaus wie im Massengrab.

 

Gewalt-Rausch

 

Ob in Schrift, Bild oder Tat, Gewalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Gründungsjahre des Kantons Basel-Landschaft. Ein wiederkehrendes Thema der Propaganda während und nach den Trennungswirren 1830-1833 waren die so genannten „Gräuelthaten“ der feindlichen Gruppierungen. Besonders den Landschäftlern wurde angelastet, in der Schlacht vom 3. August 1833 selbst Verwundete und Gefangene erbarmungslos abgeschlachtet zu haben. Und wieder steht Oberst Jakob von Blarers Handeln am Pranger. Er soll die unter seinem Kommando stehenden Birsecker Truppen zum Äussersten getrieben haben. Schlachtrapport von Blarer, 25. August: „An dem gleichen Platze wurde beschlossen, dass man von den Baslern kein Parton nehme, aber auch keinen gebe, u derjenige der gegen diesen Beschluss handeln würde, soll ohne weiteres erschossen werden, darauf wurde mit grossem Jubel abmarschiert u in Muttenz vor dem Schlüssel jedem Mann einen Trunk gegeben, wo kurz darauf abmarschiert wurde u man zog sich gegen der Hard zu.“ Hat von Blarer den verwundeten Landerer also im Blut- und Schnapsrausch umgebracht? Oder hat er ihn, den Berufs- und Standeskameraden, vor der Bestialität des Fussvolkes bewahrt – welche er selbst gereizt hatte? So oder so, von Blarer scheint für die gegnerischen Zeitgenossen das gewohnte Mass (sozusagen „nüchterner“) militärischer Gewalt überschritten zu haben. Doch diese propagandistisch zugespitzte Schuldzuweisung schweigt sich darüber aus, dass in jenen Jahren ein eigentliches und allgemeines Klima der Gewalt herrschte. Schliesslich war die Schlacht vom 3. August 1833 nur der vorläufige Endpunkt einer jahrelangen Serie gewaltsamer Konfrontationen, nicht nur auf dem Schlachtfeld.

 
 
[auf den Stosskarren, hinrichten und hängen, Aristokratenketzer, das Maul stopfen, alles in Gärung, Kaibenpfarrer, Mordio, Terroristen, schau weg, Städterhass, Sturmlauf, Fotzelkaib, Pöbelswuth, gräuliche Drohungen,]

 

Der Gegner war seit langem bekannt und anvisiert. Und er sass nicht bloss in der Stadt. Der Sissacher Gemeindepräsident und Hauptmann Martin Tschudi notierte in seinem Tagebuch unterhalb der Liste aller Einwohner von 1830: „Diess sind die Activbürger in der Gemeinde Sissach vom 20. Altersjahr bis Ende, auch sind die auswärtigen hier verzeigt. Die mit einem (x) bezeigten haben sich als stäte Anhänger der alten Regierung biss dato gezeigt […] (man heisst diese Classe nur schlecht weg Aristocraten).“ Immer wieder wurden in diesen Jahren den dörflichen Opponenten Steine ans Fenster geworfen, wurde der Gartenzaun demoliert. Nachts schossen Unbekannte ins Haus des Statthalters und des Gemeindepräsidenten, einem Itinger Grossrat schlug man die Fenster ein, der Sissacher Pfarrer wurde auf dem Heimweg mitten im Dorf niedergeschlagen. Nachdem sich am Nachmittag des 3. Augusts 1833 die letzten Basler Soldaten über die Birsbrücke in die Stadt gerettet hatten, eskalierten in vielen Dörfern die Konflikte. In Ettingen erschienen abends die siegreichen Landschäftler Soldaten. Einer trug einen „bläulechen weiten Mantel“ über den Rücken – es sei jener des Landerers, die Kugellöcher noch sichtbar. Auch einen beim Kolben abgebrochenen Stutzen hatte er auf der Schulter, angeblich jenen von Blarers. Dann zogen die Scharen durchs Dorf, schossen und schlugen überall dort Fenster und Türen ein, wo jemand nicht zur Landschaft gehalten habe.

 

Die Blutspur Landerers führte an diesem Abend weiter bis nach Reinach, zu seinem Landgut. Dort rückten die „Patrioten“ im Wirtshaus des baseltreuen Schlüsselwirts ein, bei dem eigentlich die Basler Offiziere nach ihrer Expedition hätten speisen wollen. Im Schlüssel wurde der blutige Mantel Landerers ausgebreitet, das Basler Mittagessen verlangt und der Gemeindevorstand. Auf offener Strasse wurde dann der Gemeindepräsident Feigenwinter erschossen. „Ob man einen, der nie im Krieg gewesen, so mir nichts dir nichts tödten kann, ist doch gewiss ein Morderfrevel! Niemand aber kümmerte sich darob“ , entrüstete sich ein Augenzeuge, allerdings erst 60 Jahre später. Im Schatten des blutigen Mantels wurde an diesem Abend unbarmherzig abgerechnet. Die unterlegenen Parteien hielten sich ebenfalls nicht zurück. In Aesch ging ein Gebäude von Oberst Jakob von Blarer in Flammen auf; seine Mutter beschuldigte die baseltreue Gemeindebehörde „besonders eines Aristocratenclupps“ an der Spitze, untätig zugesehen zu haben.

 

Es war (Bürger)Krieg: In den Totschlägereien des 3. Augusts wurde ein Ausmass an gewaltsamem Handeln erreicht, welches das Ausmass (wenn auch nicht die Formen) alltäglicher Konfliktgewalt zweifellos überschritt. Nur der Ausdruck eines „Rauschs“? In den Folgejahren erlebte der Kanton Basel-Landschaft mehrere Auseinandersetzungen, welche die tiefe gesellschaftliche Verankerung dieser Gewaltbereitschaft deutlich machen. In Muttenz liefen im Dezember 1833 die Dorfbewohner und -bewohnerinnen zusammen, als der Pfarrer auf Anordnung der Regierung seines Amtes enthoben werden sollte. Die Gemeinde wurde sogleich mit 650 Mann Infanterie und Kavallerie besetzt, der Widerstand unterdrückt. Ein ähnlicher Konflikt endete knapp zwei Jahre später in Oberwil mit mehreren Toten. Die Kirchgenossen jagten den ungeliebten liberalen Pfarrer weg und bedrängten auch den Statthalter. Schliesslich eskalierte der Streit, die eingreifenden Landjäger wurden angegriffen und tot geschlagen. Am 3. August rückte auch hier das Militär ein. Wie im August 1843 dann in Waldenburg, wo es wiederum um die obrigkeitliche Amtsenthebung eines Pfarrers ging. Bilanz all dieser Konflikte in der ersten Jahrhunderthälfte: Gewalt gehörte zum „normalen“ Repertoire politischer Auseinandersetzung; im Kräftemessen zwischen Dorfgemeinschaft und Obrigkeit brachen bestehende innerdörfliche Spannungen auf und entluden sich in Zerstörung und Misshandlung. Auch nach der Revolution, auch ohne Bürgerkrieg durchzog eine stetige Gewaltbereitschaft die Baselbieter Gesellschaft.

 

Professionelle Täter

 

Dass die Basler Truppen am 3. August 1833 derart blutig geschlagen wurden, lag eher an verschiedenen taktischen Fehlern und Zufällen denn an der Stärke oder Schlagkraft ihrer Gegner. Den städtischen Offizieren und Garnisonssoldaten stand keine geschlossene Landschäftler Armee gegenüber, sondern ein nur gering organisierter Haufen bewaffneter Männer. Zwar hatte die im März 1832 eingesetzte provisorische Behörde des neuen Kantons als Sofortmassnahme die Aufstellung eines Freikorps von Scharfschützen und Füsilieren beschlossen. Waffen, Munition sowie einige kleine Geschütze wurden angeschafft, die Befestigungen an der Hülftenschanze zwischen Pratteln und Frenkendorf ausgebaut. Doch der einberufene Landsturm war eine Milizarmee, die im Ernstfall erst zusammengerufen werden musste; im Kern bestand er aus Kompanien, welche jede Gemeinde zu stellen hatte. Uniformen waren kein Thema, und alle „diejenigen, welche keine Schiessgewehre besitzen, sollen sich mit Sensen, an Stangen befestigt, bewaffnen“.

 

[Schützenfest, Tschakko, Kriegsrath, Feldmusik, von Freiheit beseelt, Schützenmanoeuvres, Jäger, Messingtrommeln, Stutzer, Weidmesser, Stützen des Gemeinwesens, Kavallerie, blitzblank,]

 

Natürlich hatten bereits vor 1832 Baselbieter als Soldaten gedient, in der so genannten Landmiliz. Und in Pratteln (1817), Sissach (1822) und Liestal (ca. 1823) bildeten sich im frühen 19. Jahrhundert Schützengesellschaften. Sie beschränkten sich auf die Durchführung ziviler Wettschiessen und auf Festanlässe, sorgten aber damit – deutlich spürbar in den Trennungswirren – für die Verbreitung und Verankerung des Waffengebrauchs in der Bevölkerung. Dennoch standen sich am 3. August 1833 zwei völlig verschiedene Systeme gegenüber. Von der Stadt Basel her kam eine in geschlossenen Formationen anrückende Armee, darunter rund 300 Berufssoldaten, geführt durch ausgebildete Offiziere. Ihnen stellten sich Hals über Kopf zusammengetrommelte Landschäftler Schützen unter dem (zeitweisen) Kommando von Blarers entgegen. Der Gegensatz zwischen teilweise professionalisierter, institutionalisierter Kriegsführung und „Volksarmee“ prägte nicht nur das Geschehen auf dem Schlachtfeld. Auch die Wahrnehmung dieser gewaltsamen Begegnung (wie die Bildergeschichten und die Erzählungen rund um Landerers Tod zeigen) folgte dem Muster von Ordnung – Chaos, soldatisch – revolutionär, Pflichterfüllung – Grausamkeit. Dabei traf es jedoch das falsche Symbol. Denn Oberst Jakob von Blarer verkörperte an sich genau denselben Typ des professionellen Töters wie sein Gegner Landerer. 1802 in Aesch als Sohn eines ehemaligen Offiziers und späteren bischöflichen Beamten geboren, erhielt er seine Ausbildung am Königlichen Militärinstitut in Stuttgart. Im Solde Frankreichs machte er den Restaurationsfeldzug nach Spanien mit. Eine ganz ähnliche Laufbahn als Berufssoldaten im nachrevolutionären Europa verfolgten seine Brüder Jean Baptiste und Karl von Blarer. Auch Jakobs Söhne aus der Ehe mit der gebürtigen Französin Marie Pascal schlugen später eine militärische Laufbahn ein.

 

Jakob und Jean Baptiste von Blarer waren ab 1832 verantwortlich für die Organisation und Ausbildung der militärischen Kräfte des jungen Kantons. Bereits am 9. Mai 1834 verabschiedete der Landrat ein entsprechendes Militärgesetz, dessen Schöpfer hiess – Regierungsrat Anton von Blarer, Bruder des Jakobs. Nur auf zwei Gesetze aus jenen ersten Jahren sehe er noch mit Stolz zurück, schrieb Stephan Gutzwiller 1862, auf die Schul- und auf die Militärorganisation. Dauerte es auch noch lange, bis sämtliche Soldaten ausgerüstet und eingeteilt waren, rosteten die bei der Zeughausteilung von Basel-Stadt erhaltenen Kanonen und Kugeln in Liestal auch mangels Platz unter freiem Himmel dahin, in der Bevölkerung blieb das hohe Prestige allen Soldatischen ungebrochen. Oberst von Blarer wurde fast liebevoll „Vater Schaggi“ genannt. Landwehrmusterungen gerieten um 1835 zum Volksfest. Auf die Knaben machten die selbstbewusst auftretenden Waffenträger zweifellos nachhaltigen Eindruck. Soldat spielen um 1831: „Die Liestaler Knaben […] beschafften sich Uniformen mit hohen papierenen Kappen, geschmückt mit der rot-weissen Kokarde. Als Waffen trugen sie hölzerne Kinderspielzeuge, zum Teil auch leichte Gewehre, die man richtig mit Pulver laden konnte. Voran zog der älteste Knabe stolz zu Pferd, von einem Trommler begleitet.“

 

Oberst Jakob von Blarer gab zwar schon 1834 die Instruktionsaufgabe weiter an Oberstleutnant Rordorf und zog sich von der politischen Bühne weitgehend zurück. Als professionell geschulter Organisator der Gewalt hatte er jedoch eine zentrale Rolle in den Trennungswirren gespielt und massgeblich dazu beigetragen, dass der neue Kanton Basel-Landschaft auf Jahrzehnte hinaus seine „starke Militärhierarchie“ als „Stützen des jungen Gemeinwesens“ pflegte. Der Aufbau einer modernen Armee brachte den Wandel von der „Bürger-Armee“ zur „Soldaten-Armee“ , ohne dass deswegen die Faszination und Wertschätzung des Militärischen in der Bevölkerung verschwunden wäre. Jakob von Blarer selbst verliess später die Schweiz Richtung Frankreich, nachdem er 1856 seine Entlassung aus dem Generalstab der Armee erhalten hatte. Ob er genug von den anhaltenden Verdächtigungen hatte? Offen bleibt auch die Frage, weshalb von Blarer wie Landerers Sohn die angebliche Wahrheit über den Tod des Obersten Landerer jahrzehntelang verschwiegen hatten. Weil sie vielleicht von Blarer entlastet, aber auf die massakrierenden Landschäftler insgesamt ein noch unerfreulicheres Bild geworfen hätte?

 

Glättungsversuche

 

Der Tod des Obersten Landerer wäre wahrscheinlich schon lange in Vergessenheit geraten, gäbe es nicht dieses Bild Martin Distelis. Der Geschmack von Blut blieb so bis ins frühe 20. Jahrhundert in Erinnerung – im Rathaus Liestal hing der Kupferstich noch bis in die 1990er Jahre hinein im Sitzungszimmer. Belebt wurde die Debatte um jenen Akt der Gewalt wieder nach 1880. Die politischen Beziehungen zwischen den beiden Halbkantonen hatten sich nach 1833 allmählich normalisiert, die Vorurteile hielten sich unter dem öffentlichen Schweigen aber offenbar hartnäckig. So kam es 1883 zu einem Ehrverletzungsprozess, in dem die alten „Grausamkeiten“ vom 3. August 1833 eine Hauptrolle spielten. Der Basler Adolf Vischer hatte nämlich, von religiösen Motiven getrieben, dem Baselbieter Regierungsrat Emil Frey vorgeworfen, damals einen wehrlosen Verwundeten erschossen zu haben – und sich danach vor den Tagsatzungsgesandten seiner pulvergeschwärzten Hände gerühmt zu haben. Vor Gericht in Basel wurde Vischer wegen Beschimpfung zu einer Geldbusse verurteilt. Die angebliche „Blutschuld“ Freys (so Vischer) war nicht nachweisbar; „auch wäre Frey als gebildeter Mann zur That gar nicht fähig gewesen“, meinte der Zeuge Pfarrer Weyermann, selbst ehemaliger Mitkämpfer. In der Presse herrschte Einigkeit, dass Versöhnung angesagt sei statt Wiederbelebung alten Haders. Doch der Redaktor des „Landschäftlers“ kam nicht umhin, im Rückblick das allgemeine Blutvergiessen vom 3. August 1833 zu rechtfertigen: Bei dem damaligen Mordbrennerverhalten der Basler müsse man „sich nicht mehr verwundern, wenn Alles getödtet und keine Gefangenen gemacht worden sind“.

 

Vermutlich gab dieser Prozess den Anlass für den Anwalt Niklaus Feigenwinter, der mit Emil Freys Sohn befreundet war , sich publizistisch mit der Schlacht vom 3. August und ihrer Vorgeschichte zu befassen. Als erstes Zeugnis findet sich in Feigenwinters Nachlass ein ausgeschnittener Zeitungsartikel, datiert auf den 5. August 1883, eine aus Anlass einer Gedenkfeier auf dem Bruderholz verfasste Mitteilung. Geschildert wird darin die Episode mit dem blutigen Mantel Landerers in Reinach. Der Zufallsfund eines Manuskripts liess Feigenwinter dann wieder zur Feder greifen. An der Sitzung der Historischen und antiquarischen Gesellschaft zu Basel vom 15. März 1894 trug Dr. Karl Vischer-Merian aus „einem bisher unbekannten“ Dokument „Mitteilungen über den Tod des Kavallerieobersten Landerer am 3. August 1833, woraus hervorgeht, dass Blarer den verwundeten Landerer nicht meuchlings sondern auf dessen Bitten hin erschossen hat“ , vor. In der Versammlung sass – Niklaus Feigenwinter, eingeschriebenes Mitglied der Gesellschaft. Ein Jahr später eröffnete in der Folge Feigenwinter eine Artikelserie in der Basellandschaftlichen Zeitung. Unter dem Titel „Lasst hören aus alter Zeit“ schilderte er sein Vorhaben, „nicht nur ein Tagbuch der Revolution, sondern auch die wichtigsten Aktenstücke zu veröffentlichen, denn die jetzige Generation von Stadt und Land wisse nur von Hörensagen noch Einiges von dem, was vor 60 Jahren geschehen und weshalb es zur verhängnisvollen Trennung in zwei Halbkantone gekommen sei.“ Es sei mit seinen Veröffentlichungen kein politischer Zweck verbunden: „Es soll die historische Wahrheit möglichst genau festgestellt werden. Was vor 60 Jahren vorgefallen ist, lässt sich nicht mehr ungeschehen machen. Die gegenwärtige Bevölkerung von Baselstadt und Baselland ist dafür aber nicht verantwortlich und wenn ich voraussetzen könnte, in Basel zu beleidigen, so würde ich die Publikation lieber unterlassen.“

 

Angesagt war also Versöhnung. Ist es Zufall dass nur kurz später auf regionaler Ebene erneut die Diskussion um die Wiedervereinigung der beiden Halbkantone losging? Sie begann 1896, das 400-Jahr-Jubiläum des Beitritts zur Eidgenossenschaft (1901) in Sicht, und konkretisierte sich dann 1897 anlässlich des Kantonalschützenfests beider Basel – paradoxerweise bei jenen Leuten, welche sich vor über 60 Jahren am effizientesten gegenseitig bekämpft hatten. Die Annäherung der Schützenverbände hatte allerdings bereits 1840 (Schützenfest in Solothurn) ihren Anfang genommen. Feigenwinters Publikationen machen deutlich, was in anderen Schriften nur verdeckt aufscheint: Die „Historiographie“ der Trennungswirren stand bis ins 20. Jahrhundert hinein immer in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang mit politischen Debatten für oder wider die Wiedervereinigung.

 

Ein Beispiel? 1906 lancierte Dr. K. Brodtbeck mit einem öffentlichen Aufruf einen erneuten Versuch. 1907 erschien August Bernoullis Darstellung der dreissiger Wirren, welche durch ihre einseitig-tendenziöse Art für Aufregung sorgte. Im „Landschäftler“ hiess es dazu: „Die Veröffentlichung hat in der Landschaft viel böses Blut gemacht. Dass die Darstellung im Neujahrsblatt nicht gerade geeignet ist, für die in letzter Zeit wiederholt angeregte Wiedervereinigung von Stadt und Land Stimmung zu machen, ist ohne weiteres klar.“ Und im Frühling 1908 veröffentlichte Niklaus Feigenwinter in „Der Samstag“ jenes Dokument, welches angeblich die Wahrheit über den Tod des Obersten Landerer am 3. August 1833 enthalte: „Protokoll über die Konferenz zwischen Sohn Landerer und Oberst Jakob von Blarer in Aesch. Sohn Landerer hatte unter Blarer in der königlichen Garde Frankreichs gedient, war aber während der Basler Revolution im Auslande abwesend. Nach seiner Heimkehr begab er sich nach Aesch, um zu erfahren, wie sein Vater am 3. August ums Leben gekommen sei. Blarer erklärte ihm: Dein Vater hatte auf dem Rückzuge durch die Hardt einen Schuss in den Rücken erhalten, welcher ihm die Wirbelsäule zerschmetterte. Er war vom Pferde gestürzt und wäre ohne meine Intervention grausam massakriert worden. Aber er war verloren und wusste dies. Er bat mich als befreundeten Militärkameraden, seinen unsäglichen Leiden ein Ende zu machen. Ich weigerte mich zuerst. Endlich, endlich, als von einer Rettung keine Rede mehr sein konnte, gab ich ihm mit dem Stutzer (den mein Leibbursche Malzach in den Händen hatte) den Gnadenschuss ins Herz. Landerer Sohn: Ich weiss, dass du mir die Wahrheit gesagt hast, denn ich kenne meinen Blarer und sein edles, loyales Herz.“ Die ursprüngliche Legende muss sich aber dessen ungeachtet gehalten haben, das Bild Distelis liess ja keine solch eindeutige Erklärung zu. Wen erstaunt es, dass noch 1936, wieder im Kontext der Wiedervereinigung, dasselbe Dokument auftauchte? Diesmal war es der in der Bundesverwaltung in Bern wirkende Aloys von Reding, der seinem Freund Karl von Blarer, dem Enkel von Anton von Blarer, eine Abschrift des „Originals“ zukommen liess – jenes Dokuments also, das bereits 1894 in der Historischen und antiquarischen Gesellschaft verhandelt und für „wahr“ befunden worden war.

 

In Feigenwinters Publikationen taucht so der Tod des Obersten Landerer während Jahren immer wieder auf. Zusätzlich zu der Veröffentlichung zeitgenössischer Akten befragte Niklaus Feigenwinter auch Veteranen jener Kämpfe. Mit dem Resultat, dass jene „Augenzeugen“ alle verschiedene Versionen und Erinnerungen an das Geschehen hatten. Warum dieses hartnäckige Insistieren auf der Rekonstruktion einer Tötung? Sicher spielten persönliche Gründe eine Rolle. Niklaus Feigenwinter, geboren 1840 in Reinach, war ein bekannter Anwalt und streitbarer Politiker, verheiratet mit – Ida von Blarer, Nichte eben jenes Obersten Jakob von Blarer. Niklaus Feigenwinter betreute deshalb auch das Archiv der Familie von Blarer, welches Dokumente aus der Geschichte jener ehemaligen Pfeffinger Vogtsfamilie bis zurück ins Mittelalter beinhaltete. Obwohl von Beruf Jurist, fühlte sich Feigenwinter zum Familien-Historiker berufen. Eine umfassende Darstellung der von Blarerschen Vergangenheit misslang ihm zwar, doch er betätigte sich umso fleissiger als Lieferant historischer Korrespondentenbeiträge in der Basellandschaftlichen Zeitung. Es galt schliesslich, die Familienehre zu retten.

 

Darüber hinaus verfolgte Feigenwinter möglicherweise mit der „Rehabilitierung“ Jakob von Blarers eine innenpolitische Absicht. Die Gebrüder von Blarer stammten (wie Niklaus Feigenwinter) aus dem Birseck, jenem Gebiet also, das als ehemals fürstbischöfliche Vogtei erst seit 1815 zum Kanton Basel gehörte. Verschiedene Sonderregelungen im Bereich der Armenkassen, der Schul- und Kirchenfinanzierung sowie der Bodenzinse sorgten bereits während der 1820er Jahre und dann auch im neuen Kanton Basel-Landschaft für Misstimmung. Niklaus Feigenwinter selbst hatte 1887 eine Broschüre „Birseck. Staats- und Kirchenrecht mit historischen und statistischen Angaben“ veröffentlicht, sozusagen eine Materialsammlung zur aktuellen Debatte. Erst 1892 gelang es, nach wiederholtem Scheitern, in der neuen Verfassung die vollständige Integration des Birsecks durchzusetzen. Mit seinen Beiträgen über Oberst Jakob von Blarer könnte Feigenwinter auch versucht haben, die Bedeutung jenes Birsecker Haudegens für den ganzen Kanton in Erinnerung zu rufen. Und den konfliktträchtigen Gegensatz von städtischer Arroganz und ländlicher Rebellion gleich mit zu entschärfen. Denn die Geschichte von den beiden Kameraden Landerer und von Blarer ist auch die Geschichte davon, dass Stadt und Land seit eh miteinander verbunden waren. So wird der Bürgerkrieg zwischen Obrigkeiten und Untertanen nachträglich zum tragischen Bruderkampf von Standesgenossen stilisiert.

 

Davon zeugt auch ein weiteres Bild: Es zeigt dieselbe Szene vom 3. August 1833 in der Hardt, den Tod des Obersten Landerer – „nach den Umrissen von Disteli und der Traut’schen Darstellung im Besitze von Hrn. Vischer-Merian & Fürsprech Feigenwinter“, wie die Überschrift lautet . Als Urheber wird (Karl) Jauslin genannt, berühmter Illustrator der „Schweizergeschichte in Bildern“, wohnhaft in Muttenz. Entgegen der Überschrift zeigt diese Darstellung aber ein anderes Geschehen. Nicht nur wirkt die gesamte Komposition viel bewegter, realistischer im Ausdruck, blutiger. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass Landerer hier in einer aussichtslosen Abwehrhaltung gezeigt wird, hart bedrängt inmitten sterbender Kämpfer, zwar noch beidhändig bewaffnet, doch sich nur noch mühsam am Boden abstützend. Und vor ihm ein Landschäftler, mit dem Gewehr auf sein Herz zielend, während Oberst Landerer gerade dazu tritt. Der Tod des Obersten Landerer – eben nicht in Distelis Bildtradition, sondern als Feigenwinters Version vom „Gnadenschuss“ ins Bild gesetzt. Anders als das Schlachtenszenario Martin Distelis erlangt dieses Bild aber keine nachhaltige Berühmtheit, bleibt ein Versuch der Gedächtnisumdeutung.

 

Memorial Day

 

„Ob sich für die Kantonstrennung überhaupt tiefere historische Erklärungen finden lassen“, fragte sich 1990 ein Basler Historiker. Ein Teil der Erklärung liegt bestimmt in der schleichenden Erosion der bisherigen Herrschaftsbalance, welche die städtische Obrigkeit mit ihrer Interessenpolitik vorangetrieben hatte. Dass es in der Folge nicht – wie in anderen Schweizer Kantonen – „bloss“ zu einer Regeneration des politischen Systems kam, sondern zu einer blutigen Trennung, lässt sich zwar chronologisch nachvollziehen. Zwingend war die Eskalation aber nicht. Die Schlacht vom 3. August 1833 bildete das Resultat einer jahrelangen Konfliktpraxis, in welcher (militärische) Gewalt zum einzigen Argument geworden war. Man hatte sich an den Geschmack von Blut gewöhnt. Die Legendenbildung und -diskussion rings um den Tod des Obersten Landerers macht sichtbar, wie beide Parteien den Einsatz körperlicher Gewalt unterschiedlich legitimierten; wie Gewalt mal als notwendiges revolutionäres Instrument, mal als alltägliche Praxis sozialer Konflikte, mal als systemstabilisierende und sanktionierende Strategie verstanden wurde. Bedauern wurde keines laut, keines sichtbar. Die wortlose Nachhaltigkeit solcher Gewalterfahrung und -vorstellungen lässt sich auch an der symbolischen Inszenierung der Gewalt nach 1833 erkennen. Fünf Jahre lang fand auf dem Schlachtfeld des 3. Augusts selbst eine Gedenkfeier statt. Glockengeläute, Predigten, Zug der Honoratioren mit Fahnengeleite zum Festplatz, Bewirtung der Hinterbliebenen und Verwundeten, Ansprachen, Kanonenschüsse zur „Verherrlichung des Festes“ . Ausdrücklich wurde der „religiöse“ Charakter des „Dankfestes“ hervorgehoben; „Spielen, Tanzen so wie alle andern Belustigungen“ waren verboten. 1839 beschloss dann der basellandschaftliche Regierungsrat, die alljährliche Feier aufzuheben. Stattdessen sollten an jedem 3. August den Hinterbliebenen und Verwundeten 2 Franken, sozusagen ein Blutgeld, ausbezahlt werden.

 
 
[erschlagen, erstochen, erschossen, erdrückt, verblutet, vergraben, verstümmelt, erinnert, gefeiert, ]

 

Der eigentliche Gründungstag des Kantons Basel-Landschaft aber, der 17. März 1832, blieb noch jahrzehntelang ohne nur vergleichbares Prestige. Damals hatten sich die von der Stadt getrennten Gemeinden zum souveränen Kanton erklärt und am 4. Mai wurde die Verfassung in einer Volksabstimmung gutgeheissen. Doch der Geschmack von Papier verflüchtigte sich deutlich rascher als der Geschmack von Blut. 1883, anlässlich des bevorstehenden 50-jährigen „Jubiläums“ der Schlacht, war man sich zwar bewusst, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Stadt und Land inzwischen geändert hatte. Gefeiert werden sollte nach Ansicht der „Basellandschaftlichen Zeitung“ anders als 1834 oder 1835, im „Nachklang zu der furchtbaren Aufregung der Revolution“. Man wolle nicht mehr richten, sondern sehe heute „mit Theilnahme auf einen Widerstreit der Ideen […] der sich bei uns steigerte zu tödtlichem Hass.“ Die „Ausbrüche der Leidenschaften“ seien zu bedauern: „Die Wuth des Volkes auf beiden Seiten war der Autorität über den Kopf gewachsen.“ So die Worte; der Festakt selbst war allerdings voll symbolischer Zeichen und Handlungen der Gewalt: der Fahnenmarsch von Liestal zum Schlachtendenkmal bei Frenkendorf, Mörserschüsse, Tambouren, Parade entlang der historischen Geschütze.

 

Der 3. August blieb, obwohl nie gesetzlich deklariert, bis ins 20. Jahrhundert hinein der eigentliche Geburtstag des Kantons: Nicht 1932 und 1982, sondern 1933 und 1983 waren die eigentlichen Jubiläumsjahre. Unmissverständlich nannte der Redaktor der „Basellandschaftlichen Zeitung“, Karl Lüdin, in seiner Festansprache zum 3. August 1933, die Schlacht den „eigentlichen Geburtstag des Kantons Basellandschaft“ . Ein symbolträchtiges Bild, das sich den rund 2’000 Teilnehmern der „3. Augustfeier“ in Liestal darbot: Umrahmt von Glockengeläute versammelte sich die Menge beim Bauernkriegsdenkmal von 1653, rings um einen mächtigen Freiheitsbaum, in den die Eckdaten der Geschichte eingekerbt waren – „1653 (Bauernkrieg), 1798 (Freiheitsurkunde), 1833 (Trennung von Basel)“ . Der eigentliche Festakt fand aber am 6. August auf dem Schlachtfeld statt, bei der Hülftenschanz, mit den entsprechenden Elementen einer Schlachtenfeier. Im Zentrum stand ein Schiesswettkampf, unterbrochen durch einen „Feldgottesdienst“, nachmittags gefolgt von der Ankunft der Festzüge aus Sissach, Pratteln und Liestal mit Trachten, Jungschützen, Velofahrern, Kavalleristen, Tambouren; anschliessend Kranzniederlegung am Schlachtendenkmal. In den Reden des Frenkendorfer Gemeindeverwalters Martin, des Ständerats Rudin und des Regierungsrats Seiler vermischten sich dann Dankbarkeit den Toten gegenüber mit dem Aufruf zur Bewahrung der Selbständigkeit. Schliesslich befand man sich mitten in einer erneut aufgeflammten Diskussion über die Wiedervereinigung beider Basel. Das blutige Gefecht von 1833 war 1933 einem „friedlichen Wettkampf“ der Schützen gewichen, doch noch immer forderten die Toten ihr Recht auf Gedenken. Ständerat Rudin: „Wir verbeugen uns in dieser Stunde in Ehrfurcht vor den Opfern des 3. Augusts 1833, vor den Männer beider Lager, die für ihr Volk, für die von ihnen verfochtene Sache ihr Leben lassen mussten! Wir gedenken insbesondere unserer eigenen Landsleute, der einfachen Bauern und Handwerker, die in jenen bewegten Jahren nur eine Leidenschaft kannten: die Verteidigung der so schwer errungenen Freiheit und Unabhängigkeit!“

 

Dieser Text wurde erstmals publiziert in den Baselbieter Heimatblättern, März 2001.