Grenzen der Heimat

Zu einem Schlüsselroman

Hinter Angenstein beginnt der Jura: eine andere Landschaft mit einer eigenen Geschichte. Doch die Grenzen zwischen Jura und Rest-Schweiz verlaufen vor allem im Kopf. Die allen bekannten Bilder von der regionalen Eigenart und Identität der jurassischen Bevölkerung sind zu einem guten Teil auch Projektionen von aussen. Ein Beispiel dafür ist der heute basellandschaftliche Bezirk Laufen.

 

Hinter den blauen Bergen, da liegt das Land der Dörfler. Die Birs, welche die Juraketten mit dem Rheintal verbindet, fliesst mitten durch ihre Dörfer. Und seit Jahrhunderten ziehen römische Legionäre, Fuhrleute und fürstbischöfliche Boten entlang der Talstrasse hinunter gegen Basel zu. Doch von alldem wissen die Dörfler nur aus den Erzählungen anderer, der welschen Handwerker auf der Durchreise, der Kaufleute und der gebildeten Herren in Amtsstuben und Pfarrhäusern. ihre Welt ist eng, kaum jemand überschreitet die Grenzen des Tals, und entsprechend begrenzt ist ihr Denken und Handeln. Die Berge bilden nicht nur geographische Grenzen; sie markieren auch die Schwelle zwischen der überkommenen dörflichen Lebenswelt und der aufgeklärten Stadt. So sah – gut siebzig Jahre ist es her – Alfred Amold Frey seine Landsleute aus dem nördlichen Jura, das heisst aus dem Laufental. Mit viel Lokalkolorit und kaum verschlüsselt beschrieb er 1922 im „Pankraz Heimwalder“ das Schicksal eines Fremden im eigenen Land. Der Roman „Pankraz Heimwalder“ ist keine Autobiographie, wohl aber die Lebensgeschichte eines Geistesverwandten: Wie die fiktive Figur Pankraz verbrachte Frey einen Grossteil seines Lebens im Laufental, wo er 1886 geboren worden war. Und genau wie Erzählfigur und Pankraz im Roman wirkte auch Frey später als Lehrer, an der Sekundarschule in Laufen (1927-1948). Wichtigste Gemeinsamkeit war allerdings die Begeisterung für den Lehrerberuf, für die erzieherische und sittliche Schulung der Jugend. Die Geschichte des Pankraz Heimwalder entpuppt sich denn auch schon nach wenigen Seiten als eigentliches Lehrstück, als ein scharfes Plädoyer gegen geistige Enge, Kirchturmpolitik und Dörflermentalität.

 

Begrenzte Heimat

 

Hinter den blauen Bergen regiert der Dorfgeist. Es ist der Neid auf die Reichen oder auf die weniger Armen, die Gewinnsucht, der Hass auf die Andersgläubigen, die Streit- und Trunksucht, die Heuchelei, die Hartherzigkeit gegenüber den Schwachen, der Aberglaube und die Frömmelei. Vor allem aber ist es der überpersönliche Hass auf alles Grosse und Ungewöhnliche. Im „Pankraz Heimwalder“ schwebt der Dorfgeist als unausrottbare Macht über den Hausdächern. Doch er besitzt auch Namen und Gesichter: die klatschsüchtige Kätheri vom Wiesengrunde, der unnachsichtige und allgewaltige „Herre“ oder Pfarrer, der rohe und maulstarke Bursche Schellochsepp, der duckmäuserische Sattler. Kein Wunder, gedeiht in solcher Gesellschaft nur wenig Gutes, geht der aufrechte Pankraz seelisch und körperlich beinahe zugrunde. Denn auf ihm lastet der unauslöschbare Fluch des Fremden, des Ketzers: Sein Vater war ein zugewanderter Sägergeselle, Freidenker und Ungläubiger, der es sich mit allen Mächtigen im Dorf und im Pfarrhaus verdarb, gemieden und davongejagt wurde. Fremd bleibt fremd, und auch Pankraz, der als uneheliches Kind auf dem Hof seiner Grosseltem aufwächst, erfährt keine Gnade. Nur wenige Dörfler stehen ihm bei, und dieses sind auf ihre Weise auch Aussenstehende: Der Werkführer Feitknecht aus der Zementfabrik Dittingen, der mit seinen sozialpolitischen Idealen sowohl beim Direktor wie auch bei den Arbeitern auf blankes Unverständnis stösst; der Ammann Bandelpeter, ein selbstherrlicher und reicher Bauer, von allen respektiert oder besser gesagt seiner Macht wegen gefürchtet und gehasst; der alte Fuhrmann Fehrenhans, einer der wenigen Dörfler, welche die engen Grenzen seines Wohnorts stets von neuem überschritten haben, und der vom Elsass bis hinüber ins Schwarzbubenland und hinunter in die Stadt Basel gezogen ist. Letzterer hat die Welt gesehen und ahnt das Schicksal Pankraz‘ voraus. Ohnmächtig birgt Fehrenhans sein Wissen um die unüberwindbaren Grenzen zwischen Dorf und Stadt, alter und neuer Welt. Und so begegnet er Pankraz sinnfälligerweise erst wieder am Schluss der Erzählung, als dieser dem Tal und den Dörflern unversöhnt den Rücken kehrt und in die Stadt zieht. Die Dörfler bleiben unverändert und unbelehrt zurück.

 

Eine fremde Welt

 

Hinter den blauen Bergen liegt das Land der Dörfler, das Laufental. So konnte das nur einer formulieren, der – trotz Wohnsitz mitten in den Bergen – seinen Blick wie von aussen auf diese Dörfer richtete. In der Tat bildete der Blauenkamm, von Basel aus gesehen, eine unübersehbare Grenze. Dort lag zu Lebzeiten Freys ein anderes Kantonsgebiet, noch 100 Jahre früher sogar das Ausland. War 1922 das untere Baselbiet bereits eine dicht besiedelte, bunt durchmischte Gegend mit langer industrieller Tradition, so sah dies hinter der Klusschwelle bei Angenstein ganz anders aus. Fabriken und Verkehrswege wuchsen erst seit wenigen Jahrzehnten empor, beschränkt auf drei bis vier Zentren im Tal, Fremde kannte man zwar, doch der Grossteil der Bevölkerung bestand zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer noch aus Ortsbürgern, welche in kleinen Dörfern lebten. Und im Gegensatz zu den vielfältigen Konfessionen jenseits des Juras herrschte hier noch beinahe ungebrochen die römisch-katholische Kirche. Von aussen gesehen mag das Laufental also tatsächlich hinter den Bergen gelegen haben, ein Land der Dörfer und Dörfler, Doch in diesem Bild des Romanverfassers steckte ja mehr drin als bloss eine geographische und sozioökonomische Bestandesaufnahme. Frey schrieb gegen den Dorfgeist, gegen die beschränkte Lebenswelt der Dorfbewohner, welche seiner Meinung nach hartnäckig an veralteten und verwerflichen Gewohnheiten, Verhaltensweisen und Einstellungen festhielten. Die geistigen Grenzen dieser Dörfler, die waren sein Angriffsziel. Und deshalb legt seine Erzählung – trotz aller Lokalkenntnis und Detailtreue vor allem die Grenzen seines eigenen Verständnisses offen.

 

Alfred A. Frey vertrat, das zeigen auch andere Publikationen aus seiner Feder, die Position eines aufgeklärten Kritikers. Viele der von ihm vorgebrachten Klagen gegen die Geistlichkeit oder die rückständige Landbevölkerung gehörten seit langem zum Standardrepertoire fortschrittlich-Iiberaler Politiker. Das Dorf, erst recht wenn es im Jura lag, das war für viele ein Sinnbild der Reaktion. Fortschritt und sittliche Erneuerung, wie Alfred Frey sie predigte, schienen unter solchen gesellschaftlichen Verhältnissen unmöglich. Nicht einmal die zunehmende Industrialisierung vermochte freiere und demokratische Zustände zu schaffen, heisst es im Roman. Die Dörfer, das Laufental, der Jura – aus der Sicht eines Alfred Frey bildeten die blauen Berge die Aussengrenze der modernen Gesellschaft.

 

Das Dorf von innen

 

Nun hatte Alfred Frey den Stoff für seine Geschichte ja nicht bloss erfunden. Gestritten wurde in den Laufentaler Dörfern oft, die Beschwerdeakten, welche beim Regierungsstatthalteramt im ausgehenden 19. Jahrhundert eingereicht wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Da wurde Bürgern die Jahrholzgabe vorenthalten, weil sie als Taglöhner saisonal abwesend waren; zwischen Einwohnern und Bürgern stritt man, ob der Schärmauser- und Wegmacherlohn nun von allen oder nur von denjenigen Grundbesitzern zu zahlen sei, welche zur Bürgergemeinde gehörten. Und bei Wahlen spannten die Mächtigen die von ihnen abhängigen Dorfbewohner schamlos vor den eigenen Karren. Wer an der Gemeindeversammlung mit seinem Anliegen unterlag, rief mittels einer Beschwerde den Regierungstatthalter und damit die staatliche Gewalt zur Hilfe gegen den Rest des Dorfes. Doch solche dörflichen Konflikte beruhten nun nicht einfach auf moralischen Defiziten oder ungenügender Bildung, wie dies Alfred A. Frey suggerierte. Der Streit um Boden und Besitzverteilung berührte zum Beispiel existentielle Probleme, ging es dabei doch immer um ohnehin schon knappe Lebensgrundlagen. Ebenso war Gerede eine wichtige Form der Konfliktregelung im kleinräumigen Dorf. Und in der politischen Vorherrschaft einzelner widerspiegelten sich die vielfältigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten, welche die Dorfbewohner miteinander verbanden. Däs Dorf bildete seit Jahrhunderten eine Not- und Zwangsgemeinschaft, in der Veränderungen und Freiräume nur beschränkt möglich waren. Darin unterschied sich die Heimat des Pankraz Heimwalder und des Alfred Frey zweifellos von derjenigen, welche im Roman als Ideal enthusiastisch, aber vage entworfen wird. Dennoch: so klar definieren und abgrenzen von der Aussenwelt liess sich das Land der Dörfler um die Jahrhundertwende schon lange nicht mehr.

 

Ein langlebiger Mythos

 

Hinter den blauen Bergen lebten eben nicht nur einheimische Bauem. Zwischen 1870 und 1920 entstanden im Laufental über ein Dutzend Fabriken. In Grellingen, wo seit 1864 eine Florettspinnerei stand, wohnten mehrer Hunderte Arbeiter, meistens Zugewanderte, in einer Industriesiedlung. Es war keine eigentlich proletarische Arbeiterbevölkerung, doch 1908/09 ging sie, unterstützt durch einen sozialpolitisch engagierten Pfarrer, auf die Barrikaden. Flugblätter kursierten, Lohnforderungen und Streikdrohungen wurden laut. Ebenso 1920, als die Steinhauer in den Laufner Steinbrüchen ihre Arbeit niederlegten, oder 1922, als die Arbeiter der Mühlewerke in Laufen „Nieder mit dem Kapitalismus“ forderten. Die moderne Industriegeselischaft warf ihre Schatten auch in die Welt der Laufentaler Dörfler hinüber. Und von wegen Kirchturmpolitik und lokal begrenzter Rivalität: 1866 konnte der radikale Grossratskandidat von Delämont nur dank der Stimmen eigens angereister Grellinger seinen Sitz bewahren; Grellingen wurde sprichwörtlich bekannt für überregionale Wahlkampf-Agitation. Wenn davon auch vor allem die stärker erschlossene Talzone betroffen war – das Land der Dörfler hatte seine Unschuld längst verloren, als Pankraz Heimwalder geboren wurde.

 

Dennoch blieb die nordjurassische Dorfgesellschaft des Eigensinns und Partikularismus verdächtig. Das war bis ins 20. Jahrhundert hinein die dominante Meinung im Ratssaal zu Bern, und von dort aus wurde auch alles unternommen, um die Gemeinden des neuen Kantonsteils enger in den Gesamtkanton einzubinden. Der Spielraum der kommunalen Behörden wurde zunehmend eingeschränkt, sei es auf dem Gebiet der Waldnutzung, der Wahl- und Stimmangelegenheiten, des Finanzhaushaltes oder der Kompetenzen von Kirche und Kirchgemeinde. Doch diese Eingriffe provozierten Widerstand und Konflikte, bis keine Verständigung mehr möglich schien und der Jura sich 1978 definitiv abspaltete. Statt Grenzen aufzuheben, verstärkte die zentralistische Jurapolitik des bemischen Staates bestehende Trennlinien – in der Realität und im Kopf.

 

Die blauen Berge: Noch 1970, als die Diskussion um die Selbstbestimmung der Laufentalerinnen und Laufentaler anging, zeigte sich die Langlebigkeit dieses Mythos. In den Köpfen vieler Schweizerinnen und Schweizer war und blieb der Jura das Land der Dörfler hinter den blauen Bergen, dort, wo Eigensinn und Kirchtürme die Landschaft prägen …

 

Der Schlüsselroman: Alfred Amold Frey: Pankraz Heimwalder. Roman. Bern: Paul Haupt Verlag 1922