Kartierte Erinnerungen

Texte aus der Installation Memory. Begegnungen mit Elisabeth S., geboren 1910

Mutter. Schulkind. Hutträgerin. Mieterin. Witwe. Inzlingerin. Freundin. Salonkommunistin. Reisende. Gattin. Verkäuferin. Sammlerin. Emanze. Nachbarin. Mutter. Seniorin. Kirchgängerin. Händlerin. Patientin. Tochter. Schweizerbürgerin. Grossmutter.

 

Ein Stilleben in Grau mit roter Coladose, signiert Robert Gober; ein Detail vom Basler Münster. Auf Postkarten notiert Omi ihre Glückwünsche zum Geburtstag oder zum Neujahr. Postkarten sammelt sie seit Jahrzehnten, auf Reisen oder in Museen.

 

Gegen Ende des Kriegs bekam ich einmal Bericht vom Lohnhof, da war ein Cousin von mir. Der war jetzt auch schwarz über die Chrischona in die Schweiz gekommen, der kannte natürlich alle die Wege. Und dann wurde er interniert, zuerst im Lohnhof und von dort weg in ein Internierungslager. Ich musste also dorthin, er hatte meine Adresse angegeben. Später, als er ab und zu frei hatte, kam er vorbei und erzählte. Er war also nicht direkt an der Front gewesen, sondern beim Nachschub. Da erzählte er Sachen, es war grauenhaft: wie sie dort die einheimischen Mädchen ins Puff zerrten und dann erschossen und vergruben, er habe es selbst gesehen. Nach Jahren einmal ging ich auf Inzlingen, da kamen wir auf das Thema und ich erwähnte diese Greueltaten, da sagte er: Ich habe nichts gesehen. Da verjagte es mich grad, ich sagte, jetzt! hör mal! Sie wollten das nicht mehr wissen.

 

Es kann immer wieder geschehen. Eine vertraute Bewegung, das Zögern in einer Stimme.

 

Das war so ein Spruch, „so lang ’s no Nudle und Spätzli git verregge die chäibe Schwoobe nit“. Da war man im Deutschen und fuhr heim, kaum waren wir beim Zoll in Stetten vorbei, sang der ganze Bus das Lied. Vor dem Krieg gingen wir oft auf den Belchen. Ich musste manchmal lachen, sie hatten ja alles verdeutscht, Schlauchapfel für Banane und so. Deshalb machten wir Witze, wenn die Deutschen so kamen, zeigten wir mit dem Finger auf sie: „Habt ihr auch Schlauchäpfel?“

 

Die junge Frau wird älter, aber sie bleibt wach. Es kommt die Zeit des Pazifismus, der Anti-Atom-Bewegungen, der Militärdienstverweigerer in der Schweiz. Und Elisabeth S. hält nicht zurück mit ihrer Meinung. Nicht alle wollen Helden werden. Wenn einer wegen überzeugter Gewaltfreiheit sogar Gefängnisstrafen auf sich nimmt – Hut ab vor soviel Zivilcourage.

 

Es war einfach so… Als die Kinder schon aus dem Haus waren, sass er am Sonntag immer da und wollte nicht hinaus. Dann ging ich halt alleine spazieren. Einmal traf ich einen Herrn an, der war schon 83, ich kannte ihn von der Kirche. Mit ihm schwatzte ich, er sagte seine Frau laufe auch nicht mehr gut; da lachte ich und meinte, jetzt gehen halt wir miteinander. Dann standen wir noch vor unserm Haus und ich muss sagen, er sah gut aus. Danach ging ich hinein und sagte zu Emil: Jetzt habe ich einen gefunden, jetzt bringe ich das Inserat doch nicht zur Zeitung. Da fragte Emil, was für ein Inserat? Ja, rüstige Sechzigerin sucht einen Partner, zum Wandern. Am nächsten Sonntag sagte er, allez hopp, zieh dich an, wir gehen wandern! Und ich muss sagen, auf diesen Spaziergängen erzählte er mir vieles. Das kam dann wieder.

 

Vorher waren wir im hinteren Kleinbasel. Das war in der Nähe des alten Badischen Bahnhofs, der jetzt natürlich abgerissen ist. Das waren fast alles Eisenbähnler. Ich will nicht sagen, es war das wilde Viertel, sondern es waren so Arbeiter, ja, und Handwerker und solche Leute wohnten dort. Aber meine Mutter fand, wir müssten in ein anderes Viertel. Wie soll ich sagen, heute ist das nicht mehr so, aber damals wuchs man auf in einem Viertel und lebte dort. Und die Kinder wurden auch geprägt vom Viertel. Danach kamen wir an die Turnerstrasse. Dort wohnten, heute sagen wir denen Stehkragenproletarier, Büroangestellte also. Vorher in der Brombacherstrasse war die soziale Struktur besser, die Leute hielten zusammen, wenn Not am Mann war, waren sie hilfsbereit. Hingegen in dieser Turnerstrasse waren alle Mehrbessere, also eben nicht Mehrbessere, sondern Stehkragenproletarier.

 

Ich sagte oft, ich habe drei schweigsame Helden, das sind mein Mann und meine Söhne auch. Thomas kam von Kanada zurück, da war er während des Studiums ein Jahr lang; als ich ihn sah, rief ich: Thomas, du musst erzählen! Und er: Frag nicht soviel. Sie brauchten halt mehr Anlauf. Ich machte auch einen Fehler, ich fragte nicht mehr nach. Meine Tochter, das kam von der Allee her und rief schon und erzählte und erzählte. Hingegen die anderen – immer musste man fragen. Ich will ja niemanden ausfragen, aber wie bei meinem Enkel: wenn ich ihn frage, dann erzählt er, aber ich muss ihn immer zuerst fragen. Ich mache das vielleicht auch zuwenig.

 

Als ich in Les Verriéres im Welschlandjahr war, da musste ich am Sonntag in die Kirche nach Les Verriéres-France, und das war gut 40 Minuten zu Fuss. Im Winter, da hatte es wahnsinnig viel Schnee und sie bahnten Wege und bahnten. Einmal kam ich an die Grenze, da standen die Franzosen und fragten: Où est-ce que vous allez? A l’église, sagte ich. Sie meinten, ich könne nicht durch, es war nicht gebahnt. Ich ging trotzdem und versank bis oben im Schnee. Sie riefen mich zurück, ich müsse umkehren. Als ich heimkam, sagte mir die Madame, jetzt könne ich mit ihr gehen, in die Eglise protestante. Also ich meinte, ich sei in der Hölle. Ich muss jetzt nur sagen, ich war da schon 16. Ich dachte, ich will nicht zuhören, ich will nichts sagen. Nachher fragte mich die Madame, ob es mir gefallen habe, und anstandshalber sagte ich ja.

 

Ich wäre gerne alt.

 

Abgeschlossen ist die Haustüre selten. Nachbarkinder gehen ungehindert ein und aus. Noch Jahrzehnte später erzählt einer vom mächtigen Schrank im Wohnungsgang, dort wo die Büchse mit den Biscuits steht. Auch ich erinnere mich noch genau an den Trick mit der Küchentüre: Wenn man auf Brusthöhe die Jalousie anhebt, lässt sich die Türe dahinter ohne weiteres öffnen. Vielleicht haben sie heute ein Schloss angebracht.

 

Man kann immer von oben nach unten fliegen, aber von unten hinauf weniger: Das hat Elisabeth von ihrer Mutter gelernt. Und sie erzählt, wie ihr Bruder Arthur – ein Eisenbahnersohn! – nicht ins Humanistische Gymnasium aufgenommen worden ist. Wenn also ihre eigenen Kinder klug genug sind, sollten sie doch eine höhere Schulbildung erhalten. Wir liessen unsere Kinder machen. Man gab ihnen die Freiheit schon, gewissermassen. Du kannst heute den Jungen nicht mehr sagen, sie müssen das und das machen; früher folgten sie noch und waren ihr Leben lang unglücklich. Heute geht das nicht mehr. Ich sagte immer zu meinen Kindern, einer solle Kaminfeger werden und der andere Zahnarzt. Mit dem Kaminfeger hatte ich immer Krach… Sie sollten Handwerker werden, mit einer guten Ausbildung.

 

Über Liebe spricht sie wenig.

 

Die junge Frau wird älter, aber sie bleibt wach. Es kommt die Zeit des Pazifismus, der Anti-Atom-Bewegungen, der Militärdienstverweigerer in der Schweiz. Und Elisabeth S. hält nicht zurück mit ihrer Meinung. Nicht alle wollen Helden werden. Wenn einer wegen überzeugter Gewaltfreiheit sogar Gefängnisstrafen auf sich nimmt – Hut ab vor soviel Zivilcourage.

 

Bitte erzähl mir nochmals diese Geschichten. Ich kenne sie alle und will nichts Anderes.

 

42 Jahre lang lebt Elisabeth mit ihrem Ehemann Emil zusammen, bevor er 1979 stirbt. Damals bin ich gerade 13 Jahre alt. Erinnern mag ich mich nur an ein lächelndes Paar, an gemeinsame Ausflüge, Wanderungen, Ferien. Omi und Opi: das sind zutrauliche Laute, unschuldige Bilder. Meine Bilder.

 

Letzthin sagte mir eine Freundin, wenn ihr Mann noch lebte, der täte sich heute entsetzen: die Steuererklärung muss jetzt auch noch von der Frau unterschrieben werden. Das machten früher die Männer immer alleine, hinter vorgehaltener Hand. Ja das war schon so, nicht überall, aber… Ich selbst hätte die Buchhaltung nicht unbedingt besser machen können. Früher schrieb ich einfach hin „Ausgaben: Peterli“, wenn ich nicht wusste, wo jetzt das Geld hingekommen war. Nein, als Frau durfte man vieles einfach nicht wissen. Natürlich, bei einem selbstständig Erwerbenden war es noch schwieriger. Und Emil wollte eben nie zugestehen, wenn es irgendwo fehlte. Ich schlug ihm vor, komm wir gehen dort oder dort hin in die Ferien – dann konnte er nicht sagen, ich habe das Geld nicht. Das gab es nicht! Und ich war nicht jemand, der gebohrt hätte. Er hatte einmal einen Bauauftrag und dem Bauherrn ging das Geld aus. Der wollte alles picobello haben und hatte nicht viel Geld. Da sagte dessen Frau, ich habe ja noch Landbesitz von meinen Eltern. Und als sie dann allein aufs Grundbuchamt nachschauen ging, da war das Land schon lange weg, ihr Mann hatte das verkauft. Ich war schon unter der Knute, gewissermassen… Ein Haushaltungsbuch hätte ich nie führen müssen. Aber bei meinen Freundinnen, da waren die Männer alles Angestellte mit Lohn und davon gaben sie den Frauen Haushaltungsgeld. Das waren alles bürgerliche Familien, eben, bei knappen Kassen wäre das nicht möglich gewesen. Es stört mich erst jetzt, wo ich sehe, wie man anders zusammenleben kann als junges Paar. Viele Sachen kommen mir nämlich erst jetzt in den Sinn, wo ich sehe, wie junge Leute zusammenleben können.

 

Erst nach dem Krieg ging die Grenze wieder auf. Da hörte ich einmal, dass drüben im Maienbühl, wo wir Land hatten, die Kirschen reif seien, und dass da Schweizer an unseren Baum gingen. Da dachte ich, wenn die über die Grenze können, können wir auch. So gingen wir zur Grenze beim Maienbühl hinauf, dort war der Stacheldraht ganz niedergetrampelt. Meine Kinder, die waren damals etwa 5, 6 Jahre alt, die mussten dort drüber klettern. „Psst, nichts sagen, still“, so schlichen wir durch das hohe Gras. Plötzlich rief einer „Halt! Halt!“ Jetzt war das ein französischer Soldat und ich begann sofort französisch mit ihm zu reden: wir wollen da an den Baum, chercher des cerises. Ja wer ich seie? Eine Verwandte von der Frau M., aha, ja die kenne er. Auf jeden Fall sagte er, ja er käme mit uns. Wir gingen also hinüber zu unserem Baum und da sehe ich oben auf der Leiter den schweizerischen Postenchef des Zolls. Der ruft hinunter „Wo wollt ihr hin?“ Da sagte ich „Da auf den Baum wollen wir, Kirschen pflücken, gerade auf den Baum wo Sie sind“. Also ziemlich giftig sagte ich das. Da schnappte er „Was, was“, der Kratten voller Kirschen fiel ihm noch hinunter vor Wut. Er stieg vom Baum und fragte, ob ich einen Ausweis habe. „Nein, aber haben Sie einen?“ In Zivil war er, auf fremdem Boden! – ich bin keine Juristin, aber soviel weiss ich, dass das nicht geht. Der wusste ganz genau, dass ich ihn kenne. Da schwieg er und sagte nur, also auf dem Rückweg müsse ich unten beim Zollhaus vorbei. Nach etwa zwei Stunden gingen wir dann heimwärts und als ich bei ihm vorbeikam, sagte ich: „Aha, jetzt erkenne ich Sie, jetzt kann ich mit Ihnen reden. Aber ich will mich mal in Bern erkundigen, wie das eigentlich ist.“ Und da tat er… Meine Eltern, die hatten eine Wut, als sie das hörten. Denn sie mussten immer unten beim Zollhaus vorbei und mussten denen den „Schmuus“ bringen.

 

Weisst du noch? Nur ein Wort und ich bin dort.

 

Ich kenne nur die Omi. Wo ist Lisi, das kleine Mädchen? Mamme nennen sie ihre eigenen Kinder. Oma bei einigen Enkelkindern. Betty für die alten Freunde und Freundinnen, die junge Frau auf den Fotos. Taufname Elisabeth U. Und auf dem Adress-Stempel heisst es dann Elisabeth S.-U.

 

Ich war so unglücklich in der Schule. Einmal schickte mich der Lehrer, ich solle einen Einband kaufen. Da fragte ich ihn, was ist das, wo muss ich das holen? Ich war etwa acht Jahre alt damals, in der Theodorschule beim Wettsteinplatz. Und er sagte, ja wo wohl, in der Metzgerei denk! Jetzt wollte er einen Einband für Zeitungen. Aber ich ging natürlich in die Metzgerei und fragte nach einem Einband. Ja was für einen ich denn brauche? Für Zeitungen, hat mir der Lehrer gesagt. Noch heute sehe ich mich, wie ich dort stand. Der Metzger war ganz nett, er sagte mir, nein hör mal, das musst du auf der Post holen. Jetzt: war das ein Lehrer…?

 

Das Kanapee mit seiner sanft geschwungenen Rückenlehne gehört jetzt der Tochter. Vermutlich stammt es aus dem Nachlass einer jener alten, armen und ledigen Frauen, denen Elisabeths Mutter beim Haushalten geholfen hat. Ein schönes Kanapeeli, ein verdienter Ruheort. Oft sind dort Eltern aus der Nachbarschaft gesessen und haben sich bei Elisabeths Mutter Rat geholt. Ein schönes Kanapeeli, stummer Zeuge von Familienzwist. Nach Jahren will es Elisabeth neu polstern. Die Arbeit lässt sich hart an und sie wird ihren Mann mehr als einmal laut herumkommandiert haben. Da tritt die Schwiegertochter ein, sie wohnt damals im ersten Stock, und will den vermeintlichen Streit schlichten. Was sich Elisabeth unwillig verbittet. Reibereien gibt es immer wieder, kleine und alltägliche: wie die Enkelkinder zu behandeln sind, wie der Garten zu betreuen, wer für den Hund zu sorgen hat. Gleiches hat Elisabeth mit ihren eigenen Eltern erlebt, als sie 1942 zusammen in das neu erbaute Haus in Riehen einzogen. Ihre Mutter leistet oft unersetzliche Dienste, hütet die Kinder und hilft im Haus mit. Ihre dominante Art behält sie allerdings bei und immer weiss sie es besser.

 

Wie wir erzogen wurden… Daran waren die Schwestern aus dem Kloster beim Lindenberg schuld. Wenn ich noch daran denke: die sagten zu uns kleinen Kindern, wir waren zehnjährig etwa, wir sollten immer die Hände über der Decke haben, nie darunter. Und manchmal, wenn ich doch so schlief, dachte ich, jetzt habe ich schon wieder gesündigt. So war das, Mittelalter!

 

Einmal vornehm und mondän sein, sich als Dame von Welt fühlen. Zusammen mit Emil und seinem Studienkollegen Pierre, dem schönen charmanten Romand, will Elisabeth etwas erleben im Ausgang. Und wie Pierre so selbstbewusst den Kellner hin und her schickt im Bahnhofbuffet, da hält sie nicht zurück. Einen Whisky, bitte! Sie ist zwar nur Bier gewohnt, das ist billiger und hält länger vor. Heute soll es aber Whisky sein – was für einen wünscht die Dame denn? Zum Glück fällt ihr gerade noch ein Name ein, Black & White. Als das Glas dann auf dem Tisch steht, schon nach dem ersten Schluck muss sie husten.

 

Das ist wirklich lange her. Ein Datum trägt das Foto nicht, aber wer vergisst schon seinen Polterabend? Eine aufgekratzte Runde lacht in die Kamera, Freunde, Freundinnen, Schwestern, viele mit ihren Partnern. Nicht alle werden später heiraten, einige sind da noch solo, andere noch nicht geschieden oder noch nicht verwitwet. Es sind jetzt fast alle gestorben, da drauf. Elisabeth S. gerät ins Nachdenken, verliert sich kurz in den einzelnen Gesichtern. Das da ist der Bruder Gusti mit seiner Freundin Bethli, erst seit kurzem weiss man damals von dieser Liaison. Heiraten werden sie 1943. Er wird noch vor der Pensionierung sterben. Emils Schwestern: vier an der Zahl, nur noch eine lebt. Berti ist auch noch zu sehen, eine Freundin seit Kindertagen, und ihr Ehemann Viggi. Die Frau mit dem Kurzhaarschnitt, das ist Friedl, damals noch mit Emils Studienkollege Otto liiert. Morgen heiraten Elisabeth und Emil.

 

Hinter den Dächern wäre das Meer. Ich erinnere mich an den Wind. Die Sehnsucht lässt sich nicht gut beschreiben.

 

Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören unbedingt die Grenzgänge. Oft spaziert Omi mit uns hinauf zur Riehener Bischofshöhe und durch den Wald hinüber zum Maienbühl. Ein unscheinbarer Weg läuft über das Feld nach dem deutschen Inzlingen, vorbei an ihrem Grundstück mit Kirschen- und Zwetschgenbäumen. In Inzlingen wohnen ihre Verwandte, dort kehren wir zum Zvieri ein in der „Krone“. Inzlingen: immer ein bisschen unheimlich, exotisch. Ausland eben. Unbegreifbar schien dem Kind die Grenze. Unten auf der Inzlingerstrasse markiert immerhin ein richtiges Zollhaus den Übergang ins Fremde. Oben auf dem Feldweg stand nur ein Holzhüttlein im Gras, mit dem Adler gelb-schwarz. Aber auch hier die Beklemmung, das Schweigen beim Überschreiten der unsichtbaren Linie. Lange ist sie mir geblieben, die kleine Angst vor der Macht in Uniform.

 

Dort ging ich auch mal über die „grüne Hecke“ zu meiner Tante nach Inzlingen, gleich nach dem Krieg. Da sass in ihrer Stube ein marokkanischer Soldat und trank ein Schnäpschen. Ich sagte zu meiner Tante, was ist denn das? Der wollte jeden Tag bei ihr ein Schnäpschen trinken und in der Stube sitzen. Jetzt muss ich sagen, die Marokkaner wurden von den Franzosen schlecht behandelt. Sie waren ja auch Franzosen, aber sie wurden nicht als voll betrachtet. Und der wollte jetzt einfach in die schöne Stube sitzen und ein Schnäpschen trinken. So ging ich hinüber in die Küche und da hatte meine Tante Weissbrot, machte eine Wähe – ich bekam fast Tränen. Solche Sachen hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Wir mussten wirklich während des Kriegs sehr sehr knapp durch, wir verhungerten nicht, aber wir hatten Hunger. Viele in der Innerschweiz, die hatten das nicht, aber gerade wir in Basel. Man sagt, Gesetze werden in Bern gemacht, in Zürich gelesen, in Basel befolgt. Es war so.

 

Nicht immer ist Elisabeth so gesprächig. Auf den gemeinsamen Reisen mit Emil etwa, wenn sich ein fremdes Ehepaar an den gleichen Tisch setzen wollte – lieber blieben sie unter sich. Sie sei später, als sie alleine herumzog, oft positiv überrascht gewesen, was sich aus so Begegnungen entwickeln könne. Interessante Menschen, Gespräche über Gott und Entgegenkommen in vieler Hinsicht. Darum beneidet sie auch ihre Schwiegertochter, unkompliziert und ungeniert im Umgang mit Fremden. Man muss sich eben immer wieder überwinden.

 

Er sieht etwas seltsam aus, der alte Wäschekorb in der glatten Weisse des Badezimmers. Ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten, das nicht so recht passen will zu der neuen Umgebung. Es gab keinen Grund, ihn wegzuwerfen, etwas so Praktisches findet immer Platz. Viele andere Dinge musste Elisabeth S. weggeben oder verkaufen, als sie nach über 50 Jahren ihr Haus in Riehen verliess und in eine Stadtwohnung zog. Und es tut weh, sich zu trennen. Die Sachen haben ihren Wert, in Franken und Gefühlen.

 

Nach Brasilien, hiess es damals, anfangs 1930, unter den Intellektuellen. Gleich ist sie Feuer und Flamme, hätte mitgewollt. Ausbrechen, sich emanzipieren: Einen Beruf lernen, sich weiterbilden; die lebhaften Diskussionen über den Kommunismus und die Kunst; alleine durch Venedig, ohne Aufsicht und Anhang; das Lachen, wenn ihr etwa Emil in seiner Art des altmodischen Kavaliers die Hand reichte beim Tramtreppchen.

 

Ein wenig verlegen werde ich jedesmal, wenn ich bei meiner Grossmutter ins Bücherregal schaue. Dort steht in einer Reihe mit Reiseandenken auch ein kleines Chalet aus farbigen Streichhölzern, ein Geschenk von mir. Das Salzteigväsli von Sabine: Kindergeschenke, die man schon lange vergessen hätte.

 

Ich war auch für den Kommunismus, zum Entsetzen daheim. Ich war natürlich nicht in der Partei. Aber am Anfang meinte man, das sei das einzig Richtige. Ich kenne genug Leute, Artaria, Schmidt, alle die, das waren Kommunisten. Viele waren in der Partei. Sobald man mit denen verkehrte, das war natürlich nachher eine Schande bei den Bürgern. Also Emil hatte gar nichts mit denen, er war bürgerlich. Ich war immer das schwarze Schaf. Ich war gegen das Militär, ganz wahnsinnig. Kosmopolitin war ich auch. Natürlich war ich geborene Deutsche, aber ich fühlte mich nicht so. Manchmal gab es Diskussionen mit Emil. In der Familie von Emil war ich selten, aber wenn ich dort war, hielt ich mich zurück. In Lausanne war damals ein Sozialist in der Regierung. Ich sagte, ich fände den noch gut und schon war der Zapfen ab. Wir hatten nicht Streit, wie soll ich sagen, wir hatten einfach Diskussionen. Und eben die Bekannten, die wir hatten, die waren natürlich eher noch Kommunisten. Einmal an einem Sonntag, da war ich mit meiner Freundin Berti und einem Bildhauer, Wilde, zusammen. Er sagte, komm wir gehen jetzt noch zur Kaserne, dort war eine Kundgebung. Dort ging ich mit, und als ich nach Hause kam, sagte ich: ich war noch am Kasernenplatz, es gab eine Kundgebung. Und – das ist ja von den Kommunisten, von den Kommunisten! Was, du gehst dorthin! Das war ein Skandal zuhause. Natürlich, daheim waren sie auch bürgerlich, aber nicht so bürgerlich wie in der Familie Emils in Bern. Meine Mutter war in der deutschen Zentrumspartei, das war von den Katholiken. Und einmal kam sie heim und rief, nein, die schauen ja nur für die von oben, da gehe ich nicht mehr hin, fertig. Sie sah das also schon ein bisschen, aber man war doch mehr bürgerlich. Und natürlich hauptsächlich noch katholisch, kannst dir denken, wie von der Kanzel herab geredet wurde.

 

Ich weiss noch genau, wie wir im Garten Federball gespielt haben. Sogar die Blätter auf dem dunkelgrünen Rasen sehe ich, es war Herbst. Du standest mit dem Rücken zur Strasse. Das Bild ist klar. Eine von vielen Fotos. Ich werde mich nicht erinnern können.

 

Rechts vom Wohnzimmerschrank hängt ein seltsames Bild. Am meisten befremdet mich immer das kleine Hündchen, das neben dem Mann und der Kutsche quer durchs Bild läuft. Eine Landstrassenszene von eigenartigem Reiz. Gemalt hat es eine von Emils Schwestern. Auch Emil malte während Jahrzehnten, Aquarelle und Ölbilder. Noch sehe ich ihn, wie er auf unseren Wanderungen die Landschaft absucht und fotografiert. Die Nähe zur Kunst, das hat Elisabeth bei ihrer Berner Verwandtschaft sichtlich angezogen. Auch jetzt wieder erzählt sie mir die Geschichte vom Tanti und wie wir fast mit den berühmten Klees verwandt geworden wären. Emils Tante muss eine spezielle Frau gewesen sein. Vom Klavierunterricht konnte sie kaum leben und so wurde sie als Haushaltshilfe engagiert und weitergereicht. Unter anderem eben auch bei Paul Klee: Hier soll sie ein und aus gegangen sein und mit Vater Klee manchen Jass geklopft haben. Ob es da tatsächlich eine Liaison gab? Übrig blieb jedenfalls eine Geschichte – und ein Bild, ein Geschenk von Paul Klee, welches das Tanti später Elisabeth vermachte.

 

Da muss Elisabeth selbst lachen. Das Bild, das sie damals geboten hat! Im Pelzmantel steht sie oben an der Freien Strasse, zusammen mit einer Freundin, und verteilt Flugblätter für die Einführung des Frauenstimmrechts. Ausgesehen habe sie wie eine jener Bürgersgattinnen, die etwas mitmachen. Es war halt bitterkalt und überhaupt. Als Revolutionärin sieht sie sich nicht. Mitte der 50er Jahre ist sie in der Vereinigung für das Frauenstimmrecht dabei und wirbt im Bekanntenkreis für ihre Sache. Sie weiss um ihre Grenzen. Vom Sehen her kennt sie die später berühmten Frauenrechtlerinnen. Die seien eben ihrer Zeit voraus gewesen. Avantgardisten und Künstler könnten nicht normal sein. Wie auch im Kommunismus damals: die meisten dieser Salonkommunisten aus Elisabeths Bekanntenkreis sind Intellektuelle und Künstler, kaum ein Arbeiter dabei, sagt sie.

 

Zu Walter Wiemken, dem Maler, ging ich viel. Er wohnte damals, das war 1929, gerade vis-à-vis der Synagoge, in einem Patrizierhaus. Jetzt steht ein ganz moderner Bau dort. Im Garten hatten sie einen Pavillon, da gingen wir manchmal hin, wenn die Eltern fort waren. Dann holte er immer Wein. Wenn ich kam, war die Frau Wiemken, seine Mutter, immer sehr nett. Nun, einmal meinte er, er wolle mich malen. Ich zog einen schönen Rock an und er fing an. Als ich das Bild sah, es war nur die Leinwand: ich war wie erschlagen. Hatte ich eine Wut! Ich glaubte, jetzt kommt so ein schönes Bild … Ich weiss nicht mehr, hatte ich sogar einen Hut auf? Er sagte, er wolle mich noch einmal malen, aber ich liess mich nie mehr darauf ein. Ich dachte, nein, das Bild behalte ich nicht auf. Auf dem Heimweg ging ich über die Johanniterbrücke und da nahm ich das Bild, es war so gerollt, und in hohem Bogen warf ich es in den Rhein. Da kam einer, in Zivil, es stellte sich nachher heraus, dass er Polizist war, und sagte: „Sie müssen ihre Liebesbriefe nicht da hinunter werfen, es kommt schon wieder einer“ und machte weiter so blöde Sprüche. Der meinte zuerst noch, ich wolle mich in den Rhein werfen! Ich kam in so grossem Bogen daher… Und dann begleitete er mich bis über die Brücke, machte seine blöden Sprüche. Ich sagte nichts. Enfin. Ich hätte es vielleicht doch aufbehalten sollen. Denn in der Galerie am Gemsberg, da sah ich vor Jahren ein Bild von Wiemken, also ich sag dir: das verkauften sie für 36’000.- Franken. Und da dachte ich, ich hätte es ja behalten können und einrahmen und aufhängen, ‚Wiemken‘ daruntersetzen. Ich gefiel mir einfach nicht auf dem Bild. Weisst du, das ist so eine Illusion. Wenn Du gemalt wirst, meinst Du, er malt ja nur Schönheit. Das ist einfach eine Illusion, die man hat. Das ist wie bei der Fotografie. Wenn ich früher bei Fotografien reklamierte, da sagte Emil: „das Foto lügt nicht, es ist gut.“ „Nein, komm, das ist hässlich, das werf ich fort.“ „Nein, das Foto lügt nicht.“ Das ist natürlich, wenn er mich sieht oder malt, beim Fotografieren, da bringt er auch etwas von sich hinein.

 

Traumberuf Fotografin – dafür hat Elisabeths Mutter gar kein Verständnis. Auch Bibliothekarin braucht ihre Tochter nicht zu lernen. Ein Mädchen macht keine Lehre, das heiratet ja. Am besten bleibt sie Haushaltshilfe. Fortkommen ist schwer. Diese zwei ersten Jahre als Konsumverkäuferin, was sie sich da langweilt! Also tritt sie in die Hubersche Handelsschule ein, lernt Sekretärin. Aber auch als Berufsfrau mit Diplom ist es nicht einfach, anerkannt zu werden. Bei der ersten Bewerbung schon traut sie ihren Ohren nicht: für so einen Hungerlohn die ganze Drecksarbeit verrichten? Kehrtum und zur Tür hinaus, zurück bleibt ein fassungsloser Boss. Und als dann die Bezahlung stimmt, in einer anderen Fabrik draussen in Schweizerhalle, da scharwenzelt der Inhaber stets um sie herum, macht ihr ungefragt den Hof. Gefallen hat ihr die Arbeit nur einmal. Sechs Jahre lang im Büro mechanisch Briefe abgetippt und Formulare ausgefüllt, und dann kommt ein neuer Vorsteher, der sie fordert und fördert. Lesen Sie einmal das, arbeiten Sie sich da ein bisschen ein, plötzlich wird es interessant. Aber da ist es schon zu spät, denn die Hochzeit ist geplant und für Ehefrauen gibt es 1937 keine Arbeit. Wie sagt doch Jahrzehnte später ihre Nachfolgerin beim VSK: Wegen Ihnen bin ich ledig geblieben!

 

Den Rosenleuchter hat sie sich einiges kosten lassen. Er stammt aus Venedig, vom Ponte del Rialto. Der Preis war hoch, dazu kommen noch die Zollspesen. Und dann sind die Zimmer in Riehen zu niedrig: man muss den Spitz des Leuchters abmontieren, damit sich niemand den Kopf anstösst.

 

Sechs Kinder hätte Emil gewollt, mindestens. Er war ein kinderliebender Mann, meint Elisabeth: Ich, ich hatte genug mit unseren drei. Doch machen wir die Rechnung. Da waren Tochter Ursula, Thomas und Niklaus, die Söhne. Hinzu kommt Roger, den sie als Vormund betreute, und die beiden Nachbarbuben Christoph und David. Sie sagen mir heute noch Mamme. Einmal ging ich mit den beiden in einen Laden, Christoph fasste alles an und riss am Zeug herum. Da sagte der Verkäufer zu mir, passen Sie einmal auf Ihre Buben auf! Ich sagte: das ist nicht mein Bub. Und in dem Moment ruft Christoph, du Mamme, komm einmal her! Und da kommt mir wieder das Bild in den Sinn, das über dem Kanapee im Wohnzimmer hing, „Holbeins Frau mit den beiden älteren Kindern“. Für mich war es immer die Madonna: eine Mutter, die Hand gedankenverloren auf die Schulter ihres Knaben gelegt; kein heiteres Bild, aber von eigenwilliger Ruhe und Kraft.

 

Es war selten, dass eine Frau allein umherlief in Italien. Eine Bürgersfrau ging nie allein. Das waren nur die unteren oder die oberen Schichten wie die Baronessa, bei der ich Aupair war. Und wenn ich alleine durch die Strassen ging, dann wurde ich natürlich immer angeödet. Oohh und Aahh machten die Männer, und ich drehte mich auch noch um, schaute ob sie mich verfolgen. Dann begegneten mir ab und zu Gymnasiasten und immer zitierten die irgendeinen Rilkevers. An einem andern Ort bekam ich jeden Tag einen Blumenstrauss. Den konnte ich ja nicht mit heimnehmen zur Baronessa, und so warf ich ihn jeden Tag in den Canal Grande, wenn ich auf die Kinder wartete. Aber ich muss sagen, im Winter war es eine wahnsinnig langweilige Sache. Ich brachte die Kinder zur Schule, lief zurück, machte die Betten und fertig. Dann holte ich sie wieder ab am Mittag und brachte sie nach dem Essen zurück in die Schule. Am Nachmittag reichte die Zeit nicht, um noch einmal heimzugehen. Im Winter ging ich dann in ein Café und schrieb Briefe, und da wurde ich ziemlich belästigt von den Italienern. Deshalb fing ich an zu rauchen, damit ich mich irgendwo festhalten konnte. Und dann kamen sie wieder… Einmal ging ich in ein Café, das kam mir komisch vor. An der Wand entlang hatte es lauter kleine Tische und alles so komische Frauen, aber keine Männer. Da dachte ich, das ist jetzt noch günstig und war beruhigt. Ich fing an Briefe zu schreiben, bis plötzlich einer kam und fragte, ob ich frei sei. Genau verstand ich ihn nicht, bei der Baronessa sprach man ja französisch. Ich sagte ja, ich sei schon frei. Er meinte, ich solle mit hinaus kommen und da stand ein älterer Mann: – jetzt war das ein Café für Prostituierte!

 

Kennengelernt hatten sich Elisabeth und Emil Ende der 1920er Jahre. Obwohl sie seit 1931 fest miteinander gingen, heirateten sie erst 1937. Brautjahre – Probezeit? Sie habe einfach keine Lust zum Heiraten gehabt, habe noch etwas erleben wollen. 1931 heisst Heiraten die Berufstätigkeit aufzugeben, auch wenn ihr die Stelle nie besonders behagt hatte. Und da war noch die Sache mit der Kirche. Emil stammte aus einer protestantischen, obwohl säkularen Berner Familie, Elisabeth wurde im Geiste des streng katholischen Süddeutschlands erzogen. Für Elisabeth kam es nicht in Frage, protestantisch zu werden. Noch viel weniger für ihre Eltern. Und dann das Unbehagen der Berner Schwiegereltern, denen sich Elisabeth auch nicht fügen mochte.

 

Heute würde ich mich nie mehr im Profil fotografieren lassen. Wegen der Nase. Meine Mutter behauptete immer, sie habe eine griechische Nase. Und zu mir sagte sie, ich solle meine Nase mit dem Finger herunterdrücken, so. Nein, mit meiner Nase bin ich gar nicht zufrieden.

 

Als die Hitlerzeit begann, da war mein Vater Chef einer Gruppe von Arbeitern. Sie mussten die Loks flicken und so. Ständig mussten sie damals nach Haltingen an Vorträge, wenn „s’Adölfli“ redete. Er musste mit der Gruppe gehen und einige Male ging er nicht. Da kam einer und drohte „Sie erhalten einen Verweis“. Er antwortete, die Maschine da muss wieder raus, wir müssen die jetzt flicken. Der andere machte aber Kontrollen und drohte „Herr U., wenn das so weitergeht!“ – wir hatten ständig Angst. Da passierte ihm ein Unfall, am Meniskus. Zweimal wurde er operiert, aber es wurde nicht mehr gut und er wurde mit 56 oder 57 pensioniert. Das war glaube ich 1935. Bis dahin hatten wir immer Angst, wenn er erst spät heimkam abends, dachten, jetzt haben sie ihn geschnappt. Er erzählte nicht viel, aber wir wussten, wie es zuging. Das deutsche Konsulat schickte ihm immer Einladungen für Veranstaltungen, das Lokal war dort an der St.Alban-Vorstadt. Er ging nie. Meine Cousine, die wurde geschickt von ihrer Basler Herrschaft, das waren Nazis. Mein Vater sagte immer, hör mal, du musst nicht gehen. Dreimal versuchte sie sich nach dem Krieg dann einzubürgern, jedesmal musste sie 800 Franken zahlen. Leumund und alles war prima, aber irgend etwas stimmte nicht. Nun hatte diese Familie, bei der sie angestellt war, eine Nazi-Zeitung auf ihren Namen abonniert und deswegen war sie fichiert worden. Nach dem Krieg sperrten die Franzosen meinen Eltern zwei Jahre lang die Pension. Auch nachträglich bekamen sie nichts ausbezahlt.

 

Erinnerungen muss man manchmal vernichten, zumindest ihre materiellen Spuren. In einem Sekretär von Emils Vater findet Elisabeth Jahrzehnte später einen Packen Briefe, Zeugnisse einer unerfüllten Jugendliebe. Glücklich waren ihre Schwiegereltern nicht miteinander, davon legen die Klagen der Mutter gegenüber ihrem Sohn beredtes Zeugnis ab. Der Schwiegervater hätte diese Briefe verbrennen sollen, meint Elisabeth. Sie war da radikaler. Bevor sie 1937 Emil den Ring überstreifte, warf sie allen sentimentalen Erinnerungsballast weg. Auch jene italienischen Briefe, die sie noch Jahre nach ihrem Aupair-Aufenthalt in Venedig erhält.

 

Ich erinnere mich. An mich. Du erinnerst mich. An mich.

 

Ich schliesse die Augen. Fast wird mir schwindlig. Meine ganze Kindheit ist dieser Geruch.

 

An Selbstbewusstsein fehlt es ihr offenbar schon früher nicht. Das muss auch der Vorgesetzte von Elisabeth merken. Wieder einmal entlädt er eine seiner groben Schimpf- und Fluchtiraden über sie. Hat sie etwa diese Blätter verlegt? Und überhaupt: einen solchen Ton braucht sie sich bestimmt nicht bieten zu lassen. Kurzentschlossen nimmt sie den Mantel vom Haken und verlässt das Büro. Zuhause erzählt sie nichts, statt ins Geschäft geht sie nachmittags ins Grüne spazieren. Am nächsten Tag, die Kündigung im Kopf schon vorformuliert – da entschuldigt sich der Chef mehr oder weniger, und Elisabeth beisst sich noch einmal auf die Zunge.

 

Was bleibt: eine Sehnsucht.

 

Hungrig oder durstig bin ich nie von ihrem Tisch weggegangen. Gerne erinnert sie sich an die Festtafeln bei elsässischen Hochzeiten oder an den leichten Weisswein, den sie in St.Brice zum Münsterkäse trank.

 

Es ist ein grauer Tag, das verdüstert den Anblick vielleicht über Gebühr. Wir gehen zusammen mit Omi durch die Hirzbrunnensiedlung, wo sie zwölf Jugendjahre lang gelebt hat. Aufgereihte Häuser, ein schmaler Pfad zwischen einhegten Gärten, die Vorplätze mit Autos zugestellt. So eng und kleinbürgerlich hatte sie ihr Elternhaus doch nicht in Erinnerung. Obwohl, länger hätte sie hier nicht wohnen wollen. Einen Zusammenhalt wie in der Brombacherstrasse, den spürte sie nicht mehr. Alle in ihrem eigenen Haus, überall Augen, Stimmen, Kontrollorgane.

 

Verlobt haben sich Emil und Elisabeth nie. Zum Entsetzen ihrer Eltern verreisen sie bereits im Sommer 1932 gemeinsam nach Ascona, ohne Begleitung natürlich. Und als sie dann doch heiraten, fünf Jahre später: ohne Kutsche, ohne Schleier und weisses Kleid, ohne grosse Gästeschar. Kinder ohne Trauschein, das wäre ihr zu weit gegangen.

 

Selbst etwas künstlerisch gestalten? Da gibt es nur ausweichende Antworten. Ja die Bauernmalerei, das war neben dem Nähen noch ein Hobby. Obwohl, eigentlich fehlte die nötige Geduld dazu. Lieber schnell, passend und etwas ungenau als langsam und perfekt, das ist ihre Devise. So schneidert sie ihre Kleider, so bemalt sie ihre Zopfbretter – bevor sie die Gebrauchsanweisung liest.

 

Ausflüge auf den Feldberg im nahen Deutschland gehörten für Betty und ihre Freunde zum Winter wie der Schnee. Man fuhr mit dem Todtnauer Bähnlein hin, marschierte den Berg hinauf und traf sich in den Bergwirtschaften mit den deutschen Urlaubern. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus bekam dieses Wochenend-Vergnügen aber einen zunehmend schalen Geschmack. Wenn Hitler im Radio sprach, wurde in den Gaststuben voll aufgedreht. Da verliessen die Schweizer immer öfters den Raum. Auch an den Tanzveranstaltungen, wo man sich mit den Freiburger Studenten vergnügte, fielen immer schärfere Worte und es kam häufig zu Schlägereien zwischen den jungen Männern aus der Schweiz und aus Deutschland. Nach 1933 blieben dann viele Bekannte endgültig weg. Sie wagten sich nicht mehr über die Grenze, da sie auf der schwarzen Liste der Nazis standen. Däni Hummel zum Beispiel, der Bildhauer, obwohl er gar nicht in „der Partei“ war.

 

Ah, der Marcello… Sie lacht. Einen eleganten Mann sieht man da auf dem Foto. Venedig 1930. Es muss Winter gewesen sein, sein weisser Schal und die Handschuhe verraten Geschmack. Ein ganzes Jahr ist Betty Aupair-Mädchen bei der Baronessa. Sie hütet ihre Kinder und erkundet die Stadt. Schon bald finden sich Männer ein, welche die junge Frau ansprechen und umwerben. Die Erinnerungsfotos wirken unverfänglich. Marcello, der schreibt ihr nachher noch lange: ein anständiger Mann. Auch an den Colonello hat sie nur gute Erinnerungen. Hoch auf dem weissen Schimmel reitet der über die Dünen des Lido, wo sie mit den Kindern Rad fährt. Bald kommt man ins Gespräch im Strandcafé. Eingeladen zum Essen habe er sie auch einmal, natürlich mit Erlaubnis der Baronessa. Dann aber wird er versetzt nach Eritrea. Auch Marcello muss weg, in die Kaserne nach Capua. An diese Verehrer erinnert sie sich gerne. Andere, das wird bald schon lästig. Sie lacht: pathetische Liebesschwüre im Kirchenschiff und Selbstmorddrohungen am Meeresufer….

 

Meine Cousine aus Inzlingen, eine hübsche schlanke Frau, die war verlobt mit einem SS-Mann. Und das war natürlich so, der Bursche hatte keine Arbeit, dann ging er zum Militär oder musste zum Militär und kam so zur SS. Gut, sagen wir, er kam zwangshaft dort hin, aber er benahm sich sehr ekelhaft. In Inzlingen lief er einmal an Weihnachten in die Kirche und schrie „Hier feiert man keine Weihnachten“, also er benahm sich ekelhaft. Sie waren verlobt und wollten heiraten. Und dann nach dem Krieg suchte sie eine Stelle in Basel. Obwohl sie nirgends dabei war, auch nicht beim Bund deutscher Mädchen, ging das zuerst nicht, wegen der Fremdenpolizei. Dann bekam sie eine Stelle bei Levy, bei Juden. Denen war es gleich, wen sie zum Arbeiten anstellten. Ich kann mich erinnern, ich begleitete sie. Dort war sie aber nicht lang, dann intervenierte die Fremdenpolizei – jemand hatte sie angezeigt und sie musste wieder zurück ins Deutsche. Die Levys setzten sich noch wahnsinnig ein dafür, dass sie bleiben konnte. Damals nach dem Krieg kamen all diese Sachen hervor, es wurde angezeigt und verleumdet.

 

Zuerst schweigt sie lange, als sie auf das Foto stösst. Müde sieht sie aus darauf, etwas verloren. Ist es die Belastung jener Kriegstage: allein mit drei kleinen Kindern, der Ehemann abwesend, Geld und Lebensmittel knapp? Der Krieg war für sie auch die Schwelle zwischen Jugend und Familie. 1937 hatte sie geheiratet, 1939 wurde das erste Kind geboren. Haushalt und Familie banden sie ans Haus, wenig Zeit blieb für Freundinnen und Bekannte. Die Abende in der Brasserie der Kunsthalle, das Flanieren in der Freien Strasse… In Riehen ist sie weit weg von der städtischen Geselligkeit. Die meisten ihrer Bekannten, Künstler und Architekten, sind im Aktivdienst.

 

Schon immer faszinierten mich diese Bücherwände. Grossformatige Bildbände über ferne Länder, Kunstkataloge, Kochbücher, Gartenratgeber, und mittendrin die gesammelten Werke von Prof. Dr. Arthur, dem Bruder und Geistlichen. Selbstverständlich hat Elisabeth sie mitgenommen in die neue Wohnung, aus Pietät. Dem gelehrten Bruder gebührt sein Platz. Für viele Ratschläge war sie ihm dankbar: dass er der Nichte eine Aupair-Stelle in Südfrankreich vermittelte, dem Neffen ein Nationalfonds-Stipendium. Arthur, der Mentor. Und Gusti, der andere Bruder? Der sei ebenso gescheit gewesen, aber halt scheu. Und behütet, verwöhnt und bevorzugt von der Mutter. Beide Brüder machen später Karriere. Der eine wird vieldekorierter Wissenschaftler, der andere vielgeschätzter Abteilungsleiter in der CIBA. Was bleibt von Elisabeth?

 

Meine Mutter war sehr intelligent, sehr belesen auch. Mein Vater – er war sehr seriös, aber sie hatte nicht viel an ihm. Er ging nirgends hin und meine Mutter war das doch gewohnt. Ihr Vater hatte dort oben bei der „Eisernen Hand“ eine Steingrube und verdiente damit wahnsinnig Geld. Am Sonntag spannte er jeweils das Kütschlein an und fuhr mit den Töchtern ins Markgräflerland. Das war meine Mutter so gewohnt. Aber mein Vater war ein Schwarzwälder, schwerblütig, ich muss es sagen. Ich habe eine Bekannte, verheiratet mit einem Architekten, auch aus dem Schwarzwald. Der sprang einmal von der Johanniterbrücke in den Rhein, aus Depressionen. Er wurde dann gerettet und als ein Arzt kam, hiess es: Ja die Schwarzwälder, die mit ihrem Gemüüüt! Es hat schon etwas. Ich, ich habe nichts von einer Schwarzwälderin. Mein Vater sagte, die Inzlinger, die sind ein leichtes Völklein. Später luden wir meine Mutter sehr viel ein in Konzerte oder auch ins Theater, und das genoss sie, also wahnsinnig. Aber der Vater wäre nirgendwo hin gegangen. Er ging nirgends hin! Nichts! Er war ein guter Mann, aber die zwei gehörten nicht zusammen. Es ist wirklich wahr. Meine Mutter war eine schöne Frau und wäre gerne fort, aber alleine ausgehen, das gab es für Frauen früher nicht. Jetzt können Frauen alleine fort, ich mache das ja auch.

 

Grün, Braun, dunkles Rot. Wenig Gold, eher Silbernes, auch Türkis und Blautöne. Alte Farben.

 

Immer wieder taucht in diesen Erinnerungen auch Friedl auf, Elisabeths Freundin aus den wilden Jahren des Ledigseins: die Frau mit Bubikopf und Lippenstift. Ihre Wohnung oben am Spalenberg, das war auch so ein Treffpunkt. Klein und einfach eingerichtet, aber immer offen. Man konnte jederzeit vorbeikommen und Tee trinken. Wenn es Spaghetti hatte, gab es Spaghetti, und sonst halt das, was man gerade mitbrachte. Ein Hauch Künstlerleben, knapp bei Kasse, unkompliziert. Einmal waren wir dort, sie sagte sie käme gerade wieder, wolle rasch Parisienne holen. Das kostet 50 Rappen – hat jemand ein Fünfzigerli? Sie zählte alles zusammen und kam nur noch auf 49 Rappen… So lebte sie. Mein Vater hatte Hasen, als er einmal einen schlachtete, brauchten wir ihn nicht. Er präparierte ihn und legte noch viel Gemüse dazu, damit sie etwas zu essen hatten. Und was tat sie? Sie lud alle Leute ein, es war so grosszügig. Heute tauscht Friedl, wohlsituierte Witwe, gerne Erinnerungen aus mit Elisabeth. Doch diese hat den Kontakt zu den Künstlern und Künstlerinnen verloren, lange ist es her. Wenig hätte gefehlt und sie wäre damals auch mit nach Collioure gereist, dem südfranzösischen Fischerdörfchen, wo Wiemken, Bodmer und die anderen jedes Jahr lange Sommermonate verbrachten.

 

Was ich nicht frage.

 

Ich wüsste Omi nicht anders zu porträtieren denn als alte Frau. So habe ich sie als Kind kennengelernt, mit diesem Bild bin ich selbst älter geworden. Da ist aber auch das Foto der jungen Ehefrau, das neben dem Wandspiegel hängt: Meine Grossmutter, eine andere Person.