Marie Josephine von Blarer-Gerster

Ein willkürliches Porträt

Wie erzählt man ein Leben? Marie Josephine von Blarer-Gerster hat keine Stimme mehr. Da gibt es gerade noch einige Briefe, ein Poesiealbum aus der Jugendzeit. Geblieben sind die Erinnerungen in den Köpfen Anderer. Da sind die Berichte ihrer Eltern, Geschwister, Nachkommen. Da sind die Assoziationen, welche heutigen Lesern beim Durchblick der Korrespondenzen erwachsen. Wer war Marie Josephine? Es bleibt eine Sammlung von Bruchstücken, von subjektiven Eindrücken. Je nach Erzähler entsteht daraus eine ganz eigene Geschichte. Zum Beispiel dies willkürliche Porträt hier. Dies ist die Geschichte einer Frau in einer anderen Zeit, in einer schwierigen Lage. Dies ist eine Geschichte von Sorgen, von Ansprüchen und Möglichkeiten.

 

Familienbüchlein Arnold von Blarer-Gerster:“Name der Ehegattin: Gerster Maria Josephina, geb. 5. April 1859. Datum der Heirat: 6. Januar 1880 in Laufen. Todesdatum: 21. Juni 1937.“

 

Ich notiere: Marie Josephine, heilige Mutter und älteste Tochter. Sie trägt den Namen des Vaters, Joseph Ferdinand Gerster, den Namen der Mutter, Josephine Gerster-Richard, den Namen des Grossvaters, Joseph Richard-Pouchon. Sie trägt den Namen der Familie. Maria die Mutter, Joseph der fleissige Zimmermann, Schutzherr der Kirche. 1860 wird ihr Bruder geboren, fortan trägt er den Namen des Statthalters: Joseph, später bekannt als Joseph Gerster-Roth, Industrieller und Literat. Maria Josephina, die heilige Stellvertreterin?

 

Handschriftliche Notizen Karl von Blarer-Ziegler, Sohn der Marie Josephine:“Sie besuchte die Schulen in Laufen, war im Pensionat in Menzingen, erlernte das Kochen im Bären zu Langenbruck. Sie muss ein aufgewecktes und fröhliches Kind gewesen sein, das sein Heimatstädtchen [Laufen] mit all seinen grossen & und kleinen Geschichten mit offenen Augen und empfängl. Gemüte erlebte.“

 

Der Vater schreibt an seine Tochter nach Menzingen, 18. Februar 1872: „Ich und Mama zählen auf dich als die Hauptstütze unseres Geschäftes, die Hülfe bedürfen wir überall, sowohl im Geschäfte als auch in der Erziehung der noch ungezogenen kl. Geschwistern. Widme dich namentlich deiner Muttersprache der deutschen, dann dem Französischen, Rechnen etc. als Hauptsache. Musik kann dir auch stets von Nutzen sein. Weibliche Arbeit ist natürlich dein Hauptfach.“

 

Die Mutter schreibt an ihre 13-jährige Tochter, 16. Februar 1873: „Tu sais, ma chère enfant que je vous ai toujours procuré avec plaisir le nécessaire. Le superflu il ne faut pas le désirer. Si l’on est quelquefois mécontent de sa position, il faut regarder sur le plus malheureux. […] Il ne faut pas que tu regrettes tant de ne pouvoir nous aider. Ton tour viendra encore assez. Combien de fois je n’ai pas dit que l’ainée d’un troupeau était très à plaindre…“ Ergänzung des Vaters: „Nous travaillons avec plaisir pour vous mes chers Enfants, pour vous faire élever comme il faut au plaisir de Dieu et de nous […] notre soutien dans nos vieux jours. Je compte aussi sur toi pour nous aider à élever tes petits frères et soeurs et tu leur seras leur Régente.“

 

Vergissmeinnicht von Marie Josephine 1874: „Liebe Maria unsere gute Mutter! Glücklich sind die treuen und liebenden Kinder Marias. Die dankbare Mutter lässt sich durch die Liebe ihrer Verehrer niemals besiegen. Durch Gnaden und Wohlthaten vergilt sie alles reichlich. In innigster Liebe deine Emilie Mer, enfant de Marie.“

 

Der Bruder schreibt an seine Schwester, Juni 1875: „[Die Mutter] meinte, dass Du ihr ein wenig unter die Arme greifen würdest. Aber Du musstest das Nähen erlernen und jetzt lässest Du sie wieder sitzen, gerade wenn man am ersten Arbeit hat. […] Du siehst, dass die Zeit, die Du in Langenbruck zubringst uns viel Mühe und Opfer kostet.“

 

Was sich aus der Biographie des Bruders und aus dem Familienbüchlein rekonstruieren lässt: Die Eltern Gerster führen in Laufen seit 1858 eine Handlung, ab 1869 die Wirtschaft zum Lämmli. Daneben die üblichen paar Stücke Land mit Vieh. Marie Josephine arbeitet im Geschäft der Eltern. Vater Gerster-Richard stirbt 1880 und hinterlässt 8 Kinder, das jüngste 9-jährig. Marie Josephine ist zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt und frisch verheiratet. An ihrer Hochzeit steht sie kurz vor der Geburt ihrer Tochter Maria Bertha.

 

Handschriftliche Notizen Karl von Blarer-Ziegler, Sohn der Marie Josephine:“In ihrem Geschäft lernte sie ihren späteren Mann, unseren Vater kennen. Als er das erste Mal im Lemmli zu sehen war, soll die Mutter unsere Grossmama in Gegenwart des Marili Gester geäussert haben quel bel homme und es war um das Herz der jungen Person geschehen. Sie heiratete ihn trotz seines geschäftl. Misserfolgs. Wohl nicht zur Freude ihrer Mutter die damals einen schwer kranken Mann zu betreuen hatte und gerne ihre älteste Tochter bei sich gehabt hätte.“

 

Ich überlege: Was ist passiert? Ein Ausbruch aus der zugedachten Rolle als Hausmütterchen? Vielleicht auch ein ungewolltes „Missgeschick“. Die älteste Tochter verlässt die Familie und tritt ihre Aufgabe an den jüngeren Joseph ab. Josephine wird zu Marie: in der neuen Umgebung, der eigenen Familie, wird sie wieder zur besorgten Mutter. Das Leben gestaltet sich schwierig, der Gatte hat keine glückliche Hand. 1878 hat er Konkurs gemacht mit seiner Bierbrauerei in Laufen. Und in Angenstein, wohin die junge Familie zieht, laufen die Geschäfte anfangs auch nicht rosig. Arnold von Blarer versucht sich als Fuhrhalter. Marie Josephine hält den Haushalt zusammen und ist vierfache Mutter.

 

Ich lese im Briefwechsel zwischen den Geschwistern: In der Familie von Blarer-Gerster häufen sich die Probleme. Joseph Gerster-Roth unterstützt seine Schwester mit Ratschlägen und Anleihen. Doch sie bleibt für ihn Marie, die Schwester, die Mutter, die – wie ihr Mann – von Geschäften nichts versteht.

 

Joseph Gerster an Marie Josephine, 12. Oktober 1886 und 10. Juni 1905: „ich kann nicht begreifen, wie du mich wieder mit der nämlichen dummen Angelegenheit die ich mit Schreiben vom 9. Juli abhin so gründlich erledigt glaubte, plagen kannst… Um solchen nie endenden Missverständnissen vorzubeugen werden wir in Zukunft vermeiden, je wieder auf Euch zu trassieren. Ueberhaupt erlaube ich mir Dir den wohlmeinenden Rat zu geben, Deine Sachen gründlicher zu buchen.“ „Dein Cassabuch ist ja recht, aber mit einem Cassabuch allein kann man doch kein Geschäft führen.“

 

Ich blättere im literarischen Werk des Bruders. Seiner Lieblingsschwester Angelika Chlotildis entlehnt er den Namen für das Pseudonym Tante Chlotilde, unter dem er publiziert. Von Marie Josephine ist keine Spur zu finden. Oder doch? 1911 veröffentlicht Joseph Gerster-Roth seine Novelle „Maria Dolorosa“, auf deutsch vielleicht: Maria du Schmerzensreiche. Das ist die Geschichte einer gläubigen Katholikin aus der Kulturkampfzeit, die schwer unter dem abtrünnigen christkatholischen Ehemann leidet. Überhaupt ist Gersters Werk durchzogen mit Mariengestalten, mit Lobgesängen auf Maria, die unfehlbare Mutter und Helferin.

 

Joseph Gerster-Roth an Marie Josephine, div. Schreiben 1914:“Wir nehmen auch recht Antheil an den Leiden und Heimsuchungen v. Blarer. Er wird sich in der Geduld im Leiden wohl üben können.“ „Aus Deinem Briefe ersehe ich, dass Ihr viel Elend habt & dass noch viel euer wartet.“

 

Marie Josephine an Sohn Karl, div. Schreiben 1914: „Wo ist da das Glück? Jedenfalls nicht beim grossen Geldsack. Die welche gedrückt sind, plagen sich, und die welche Geld haben, plagen sich auch. Folglich ist das Glück hienieden gar nicht zu finden.“ „Mein lieber Karl: Du wirst dir denken, was Mama schreibt, bedeutet nichts Gutes, was wird sie wohl schon wieder wollen? Als ihr noch klein waret, nahmet ihr zu mir eure Zuflucht, jetzt da ich alt werde und man von allen Seiten gestossen wird, muss ich zu euch kommen. Dies Jahr geht alles so schief, alles wie man es ungern nur haben kann.“

 

Joseph Gerster an Marie Josephine, 8. April 1920: „Liebe Schwester. In den erlebten sechzig Jahren sind dir Kummer – Leid und Sorgen in übermächtigem Masse zugemessen worden – aber du hast auch das grosse Glück, dass eines deiner Kinder wie ein Engel an deiner Seite stand.“

 

Ich rekonstruiere aus verstreuten Akten: 1916 stirbt ihr Ehemann, Arnold von Blarer, nach langem Leiden. Sie überlebt ihn um 21 Jahre. Sie sorgt für die Ausbildung ihrer Kinder. Ihren Sohn Karl schickt sie auf die Universität. Er wird während mehr als 50 Jahren als Rechtsanwalt und Führer der Birsecker Katholiken im Landrat sitzen.

 

Memoiren von Joseph Gerster-Roth, 1923:“Es ist nun angezeigt, die Schicksale meiner Geschwister zu behandeln. Meine ältere Schwester Marie, geb. 1859, besuchte nach Absolvierung der hiesigen Primarschule das Töchterinstitut Menzingen Kt. Zug, wo sie durch Fleiss und Lernbegierde excellierte. Da sie eine sehr schöne Sopranstimme besass, wirkte sie nach ihrer Heimkehr im Kirchenchor. Im 22. Altersjahr verheiratete sie sich mit Arnold von Blarer von Aesch, der Inhaber der hiesigen Brauerei war, und sich, nachdem das Geschäft liquidiert werden musste, Aesch, seinem Heimatort, zuwandte. Die merkwürdigen Schicksale der Familie von Blarer-Gerster sind euch bekannt.“

 

Erinnerungen Christoph von Blarer-Bösch, 1999: „Meine Grossmutter war immer voller Sorgen, immer am Sparen und Rechnen. Ich sehe sie vor mir, den Tisch bedeckt mit Rechnungen und Papieren. Doch wenn ihre Enkelkinder kamen, leuchtete ihr Gesicht auf, sie räumte alles weg und holte die runde Dose mit den Biscuits hervor.“

Nachweis
Die zitierten Briefe und Dokumente finden sich im Familienarchiv Blarer von Wartensee in Aesch. Einzelne Angaben stammen aus der Gesamtausgabe der Werke von Joseph Gerster-Roth von 1988.

Dieser Text wurde erstmals publiziert im Laufentaler Jahrbuch 2000.