Mut zur Provinzialität

Zum Selbstverständnis der Stadt Basel

Basel ist auf dem besten Weg, eine Provinzstadt zu werden. Widerstand ist vergeblich und auch gar nicht wünschbar. Denn die einstige urbane Vorherrschaft Basels ist Vergangenheit. Stattdessen sollte sich die Stadt besser auf andere Qualitäten ihrer Geschichte besinnen. Nur als bekennende Provinzstadt kann sie sich öffnen und sich vor der geistigen und sozialen Selbstbeschränkung retten.

 

Und es stand geschrieben: Stotternde Sanierung der Staatsfinanzen, Abwanderung junger Familien, Scheitern der Wiedervereinigung – Basel tut sich schwer in letzter Zeit. Die Misserfolge werden nicht mit energischen Vorwärtsmassnahmen, sondern mit einer Rückwärtswende in die heile Welt des Lokalchauvinismus aufgefangen. Basel über alles! Wer das „neue Stadtgefühl“ nicht mitvollziehen kann, der ist „kai Basler“. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass sich die Schöpferischsten dieser Stadt aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen beginnen. Es droht Basels „Venezianisierung“, sozusagen als logische Fortsetzung des „Sauglattismus“ und der Verarmung von Polis und Politik. Venedig, einst blühende Stadtrepublik, verlor irgendwann im 18. Jahrhundert die Kraft, sich den Herausforderungen eines sich dramatisch wandelnden Umfeldes zu stellen. Doch das Jahrhundert des Niedergangs war mitnichten ein freudloses. Es waren Zeiten der fidelen Beschäftigung mit sich selbst, Zeiten, in denen sich das öffentliche Leben ganz auf den Karneval auszurichten begann.

 

Ein Menetekel? Zumindest eine Prognose, die sich nicht entsorgt hat. Fast wortwörtlich so machte 1986 Peter Ziegler seiner Besorgnis Luft. Man ersetze einfach Karneval durch FCB – et voilà Basels Malaise, Ausgabe 2004. Es ist offenbar, dass der Stadtkanton an volkswirtschaftlicher Strukturschwäche, demographischer Ausblutung und bildungspolitischer Isolation leidet. Gleichzeitig droht aber auch die soziale und geistige Selbstbeschränkung. Wer’s nicht glaubt, konsultiere die Leserbriefspalten oder die Parteiprogramme. Basel verdörfliche mangels Party- und Parkplätzen, heisst es da. Weniger Eigeninitiative und mehr Konsum, pardon: Freiraum, fordert man. Weniger Befremdliches und mehr Kulturhoheit, pardon: Baselness, wird gewünscht. Oder weniger Ausgleich und mehr Potenz, pardon: Steuerkraft. Umgekehrt tröstet man sich damit, dass man am gemütlichen Rheinknie zwar provinziell lebe, dafür aber funktionierende Tramverbindungen, weniger Dreck und Kriminelle als in manch einer Weltstadt habe.

 

Solche Reden sind im negativen Sinne des Wortes provinziell. Sie reduzieren Urbanität auf Nachtleben, Kulturpolitik auf Touristik und Innovation auf Kapital. Und sie ziehen Mauern hoch rings um das Eigene. Man ist in Basel zwar – wie es Dieter Bachmann am Literaturfestival 2003 spitz formulierte- stolz darauf, internationale Nachbarschaft zu haben, aber nicht zwingend auch stolz auf die Nachbarn selbst. Man will Weltstadt sein, doch im Hausblatt des Verfassungsrates wird „Basler sein“ mit „Basler Bürger sein“ gleich gesetzt. Lange verstand man unter „Regio“ die „Regio Basiliensis“: Kernstadt plus Agglomeration. Noch sieht sich Basel zu selten als Gemeinschaft von Zugewanderten und zu oft als Stadt mit Migrationsproblemen. Da hilft auch echte Zuneigung nicht: „Der provinzielle Blick macht die Stadt selbst gerade dort zur Provinz, wo er aus leuchtenden Augen auf sie fällt“, kritisiert der politische Theoretiker Oliver Marchart, Dozent an der Universität Basel. Provinz sei keine geographische, sondern eine politische Kategorie, ein Mangel an Informations- und Interpretationsmöglichkeiten. Auf die hiesige Situation angewandt heisst das: Basel ist nicht zum Provinzdasein verdammt, weil es fernab der Entscheidungszentren Bern und Zürich liegt. Dieser Stadt droht die Isolierung – Peter Ziegler nannte es „Venezianisierung“ -, wenn sie sich nicht mehr erneuern mag.

 

Deshalb muss sich Basel im positiven Sinne zu seiner Provinzialität bekennen. Wir leben nicht mehr in der mittelalterlichen urbanen Metropole des Oberrheins. Das ehemalige Untertanen-Hinterland hat sich unabhängig gemacht, an die Stelle historischer Zentrumsprivilegien sind moderne Zentrumslasten getreten. Früher exportierten die Basler Herren Kapital und Bibeln, heute sind ihre Produktionszentren in China und morgen ihre Aktionäre auch. Wer aber dies als Provinzialisierung bezeichnet, hat die Geschichtsbücher falsch gelesen. Provinzleben als dumpfe Ohnmacht: dieses Bild widerspiegelt französische Erinnerungskultur, nicht hiesige Spielräume. Denn Basel erlebt seit Jahrhunderten auch einen Prozess der Provinzialisierung, der stimulierend und verbindend wirkt. Einbindung in die Eidgenossenschaft, in die föderalistische Schweiz, in Oberrhein- und Regio Trirhena-Verband, in interkantonale Kooperationen – das ist die politische Erfolgsgeschichte des provinzialisierten Basels. Immigration, Innovation, Integration – das ist die soziale Erfolgsgeschichte dieser Stadt. Das ist die Geschichte eines Austauschs zwischen Rändern und Zentren, zwischen Anwesenden, Zuziehenden und Abreisenden. Noch ist sie leider, auf dem Papier wie in den Köpfen, ungeschrieben.

 

Provinz ist inzwischen überall, aber Provinzialität will gelernt sein. Als innovatives Gegenmodell zu Peter Zieglers Venezianisierung könnte sie für Basel bedeuten: Den eigenen Standort pflegen und zugleich die bisherigen Grenzen überwinden. Hier hätte Basel einiges von seinen Nachbarn zu lernen… Wie man in der Provinz das eigene Kulturerbe packend aufbereitet und vermittelt, machen die Museen im nahen Umland schon seit Jahren vor. Es gilt, inhaltliche und formale Neugier zu entwickeln, im Bereich des regionalpolitischen Zusammenlebens, der sozialen Integration wie in der Kulturpolitik. Provinzialität befähigt zu Kooperation – das beweist Lörrach mit dem Stimmen-Festival. Lörrach und Weil, lange als „Landstädtchen“ belächelt, verfügen heute als gemeinsame Stadt-Partner über neues Selbstbewusstsein und neue Entwicklungsperspektiven. Das hat Basel auch verdient.

Literatur
Peter Ziegler: „Zwischen Venezianisierung und Chancenwahrnehmung“, in: Basel wohin? Zehn (Wahl-)Basler über Basels Zukunftsperspektiven. Aus Anlass des Jubiläums der Christoph Merian Stiftung 1886-1986, BDV Basilius Verlag 1986, S. 21-27.
Oliver Marchart: Die Rache der Provinz … und die Pflicht zur Entprovinzialisierung, zitiert nach: http://www.igkultur.at.
Elisabeth Rosenkranz: Von wegen „Landstädtchen“ – damit ist es vorbei. Das „Oberzentrum“ Lörrach/Weil am Rhein, in: Basler Stadtbuch 2004, S. 39-42.

Dieser Text wurde publiziert im Basler Stadtbuch 2005.