Schluss mit der Heimatkunde

Ein Essay

Nicht zuletzt die expo.02 beweist: Es gilt heute, Abschied zu nehmen von zwei Jahrhunderten Heimaterziehungs-Versuchen. Unsere Geschichtsbücher und Gemeindechroniken verkünden Gewissheiten von Heimat, wo diese erst zu erkunden wäre. Zukunftsfähige Heimatkunde ist nicht mehr als Wissensdokumentation angelegt, sondern als offene Auseinandersetzung.

 

Keiner zu klein, keine zu prominent, um nicht ein Schweizerkreuz auf der Brust zu tragen. Fast glaubte man sich im Sommer 2002 um 501 Jahre zurückversetzt, in jene Zeit, als das Schweizer Kreuz in Basel noch politisches Bekenntnis war. Doch inzwischen sind wir ja alle in der Eidgenossenschaft angelangt – der neue Patriotismus, von dem die T-Shirts, Fahnen und Damentaschen künden, transportiert heute andere Bekenntnisse. „Imagi-Nation“, lautete die Absicht der expo.02, die Schweiz müsse neu erdacht, erträumt, eben imaginiert werden. Das Nationale als Projektionsfläche für Sehnsüchte nach einer neuen Heimat. Und die Sehnsüchte sind, misst man sie an der Zahl der textilen Bekenntnisse, gross und verbreitet. Offenbar stillt das, was uns bisher als Heimat verkündet wurde, unsere Bedürfnisse nicht mehr. Ob die expo.02 hier alternative Horizonte eröffnet hat? Zumindest ein Verdienst gebührt ihr: Schluss gemacht zu haben mit dem, was man so allgemein als Heimatkunde kennt und meidet. Denn seit zwei Jahrhunderten übt sich die schweizerische Gesellschaft unter diesem Motto in der Erziehung des Individuums zum staats-bürgerlichen, verantwortungsbewussten Subjekt. Die Grenzen des Versuchs liegen offen zu Tage.

 

Viele ziehen sich in die Ghettos ihrer kulturellen Sicherheiten zurück oder foutieren sich um kollektive Angelegenheiten. Die rassistischen Anpöbeleien im Tram oder der platt getrampelte Allschwiler Wald sind nur einige Symptome dieser zutiefst verstörten Beziehung zum eigenen Lebensraum. Am fehlenden Wissen allein kann es dabei nicht liegen. All die Basiliensia, Rauracia und Helvetica künden eifrig von der lokalen Kultur, Fauna, Flora, Architektur… Und doch dokumentiert diese heimatkundliche Literatur letztlich eher die Sehnsucht nach Beheimatung, als sie zu stillen. Denn es widerspricht die Heimat, die da in Feuilletons, Lehrmitteln und leider auch in expo.02-Pavillons verkündet wird, schlicht unserer Wahrnehmung. Diese Heimat ist zu statisch, zu unsinnlich, zu unverbindlich und zu nutzlos. Kundig wird man dabei möglicherweise, beheimatet kaum. Heimat, so formulierte es Richard Weizsäcker 1984, wäre dort möglich, wo man in Verantwortung genommen wird und verantwortlich sein kann. Brauchbare Beheimatung schüfe also Respekt und Widerspruch, beinhaltete Möglichkeiten zum Fragen, Antworten und Nachfragen. Dazu muss man allerdings erst einmal Schluss machen mit der Heimatkunde.

 

Zumindest endgültigen Schluss mit dem, was bis vor wenigen Jahrzehnten vor allem im Schulbereich noch so genannt wurde. Denn Heimatkunde ist ein pädagogisches Erbe, das schon arg in die Jahre gekommen ist. Nach der Mitte des 18. Jahrhunderts gewannen im Geiste der Aufklärung regionale Orts- und Regionalmonographien langsam an Boden. Wissen ist Macht: Geographische, naturkundliche und geschichtliche Beschreibungen lieferten die theoretische Grundlage für die Reformpläne ökonomischer Gesellschaften. Bescheiden nannte der Basler Archivar Daniel Bruckner sein 1763 vollendetes, 23-bändiges Werk „Versuch einer Beschreibung historischer und natürlicher Merkwürdigkeiten der Landschaft Basel“. Noch gab es den Begriff der Heimatkunde nicht, vergebens sucht man ihn auch im Wörterbuch der Gebrüder Grimm um 1870. Das Wort entstammte der pädagogischen Provinz und blieb vorerst auf die schulische Bildung beschränkt. Heimatkunde war eine Schöpfung der Volksschullehrer aus dem frühen 19. Jahrhundert. Die Forderung nach einem schulischen Grundunterricht, der vom unmittelbaren Erlebnisbereich des Kindes auszugehen habe, setzte allen anderen voran der deutsche Pädagoge Wilhelm Harnisch um. Beeinflusst von Heinrich Pestalozzis Ideen formulierte er 1816 seinen „Leitfaden beim Unterricht in der Weltkunde“. Deren erster Teil begann mit der „Kunde der Heimath“ und führte über die „Kunde der Erde“ zur „Kunde des Vaterlandes“. Heimatkunde war Nationalerziehung. Auch in der Schweiz wurde nach 1830 im aufblühenden Volksschulwesen der Regenerationsjahre der Realunterricht zu einem staatspolitisch wichtigen Bildungsmittel. Die Schule der Nation begann im Vorgarten – Heimatkunde vereinte Hauskunde, Gemeindekunde, Staatskunde, Erdkunde. Es entstanden Lesebücher, Unterrichtspläne, Weiterbildungen.

Ländlicher Identitätsbeweis

 

Im späten 19. Jahrhundert schaffte die Heimatkunde dann den Sprung vom Schulbuch zum Kulturbuch für die ganze Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass der Anstoss aus dem jungen Kanton Basel-Landschaft kam. Nach der Kantonstrennung 1832/1833 herrschte im liberalen Landkanton Bürger- und Bildungsnotstand. Politiker wie Johannes Kettiger oder Martin Birmann trieben den Auf- und Umbau des Schulwesens voran, getreu Heinrich Zschokkes Losung „Volksbildung ist Volksbefreiung“, und ganz im Sinne der pädagogischen Heimatkundetradition des Nachbarlandes. Lehrer wurden zu zentralen Figuren der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Wen überrascht’s, dass die Neukantönler 1862 zeigen wollten, was sie erreicht hatten. Die Baselbieter Lehrerschaft beschloss auf die schweizerische Schulausstellung von 1863 hin, eine geschichtliche und ortsbeschreibende Heimatskunde aller Gemeinden zu verfassen. Sie sollte nicht nur den Kollegen in anderen Kantonen als Vorbild und im Schulalltag als Lehrmittel dienen. Ebenso wichtig war den Initianten die „Zeugniskraft für die Nachkommen“ – und deshalb lobten die Manuskripte Reformen im Ackerbau sowie Fortschritte im Eisenbahnverkehr und tadelten angeblichen Aberglauben und Verunreinigung der Sitten. Gedruckt wurden allerdings die wenigsten dieser Versuche.

 

Auch in anderen Schweizer Kantonen machte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lehrerschaft an die Arbeit. Zu einer gesamtschweizerischen Heimatkunde kam es dennoch nie, trotz der ursprünglichen Absicht von 1863. Ausgangs- und Bezugspunkt blieb das Dorf, die überschaubare lokale Gesellschaft. Erst recht in der Zwischenkriegszeit: Jetzt erhielt der staatsbürgerliche Optimismus Verstärkung durch die Aufwertung des Provinziellen, durch die Gleichsetzung des Heimatlichen mit dem Dörflichen. Solch wertkonservative Kritik an der zunehmend urbanisierten und modernisierten Schweiz formulierte 1935 zum Beispiel der Thiersteiner Lehrer und Schriftsteller Albin Fringeli: „Kommen wir schliesslich nicht doch zur Erkenntnis, dass auch die fremden Städte nur Dörfer sind, freilich sind sie aufgeputzt. Und was sind die welthistorischen Vorgänge, die Konferenzen, wenn wir die pompöse Kleidung wegnehmen? Wie gross ist die Ähnlichkeit mit unserem Dorfleben. […] Die Heimaterziehung ist etwas, das uns alle angeht. Wir wollen dem Bauern vor allem eine Bildung geben, die ihn wirtschaftlich hebt. Wir wollen das Gefühl beseitigen, als ob das Landleben etwas Minderwertiges wäre.“ In jenen Jahrzehnten lag auch die Geburtsstunde des heimatkundlichen Blätterwaldes in der Region Basel. Zu den neu gegründeten Publikationsreihen gehörten etwa Dr Schwarzbueb 1923, der Basler katholische Volkskalender 1923, der Rauracher 1928, die Baselbieter Heimatblätter 1936, die Jurablätter 1938 oder das Baselbieter Heimatbuch 1942. Der Stadt- und Universitätskanton Basel selbst kannte und kennt keine vergleichbar populäre heimatkundliche Tradition. Hier lagen Bildung und Aufklärung in anderen Händen, blieb der Volksschullehrer eine Randfigur. Heimatkunde ist eben im mehrfachen Sinne Landeskunde: als Versuch einer interdisziplinären, totalen Beschreibung ebenso wie als genuin vor-städtisches Anliegen kollektiver Identität.

 

Eine zweite Blütezeit ländlicher Heimatkunde lag in den 1960er-Jahren. Schon die 1930er-Welle betonte die „Besinnung auf das Eigene und die Verbundenheit mit der Volksgemeinschaft unserer engeren Heimat“. Ganz betont der territorialen Identitätsstiftung diente Heimatkunde dann in der Nachkriegszeit. Der Kanton Basel-Landschaft erlebte in jenen Jahrzehnten eine Verdoppelung seiner Wohnbevölkerung und die erneute Debatte um die Wiedervereinigung von Stadt und Land. Dieselben Männer, welche bereits die Baselbieter Heimatblätter und das Baselbieter Heimatbuch angeregt hatten, standen 1961 auch hinter der neu gegründeten Gesellschaft für Baselbieter Heimatforschung. Sie wollten sich damit „eine festere Basis geben, um im neuen BL, im bürokratischeren, modernen BL, das ja ungeheure Wachstumsphasen vor sich sah, bestehen zu können und gehört zu werden“. 1964 schritten sie erneut zur Tat und initiierten die Neuauflage von Heimatkunden. Ausdrücklich sollte an die Vorbilder von 1863 angeknüpft werden. Die geforderte Darstellung der aktuellen Verhältnisse sollten zum Vergleich mit der Vergangenheit anregen. Heimatkunde, so das Programm der kantonalen Arbeitsgemeinschaft zur Herausgabe von Heimatkunden, sollte der Bindungsschwäche der modernen Gesellschaft entgegenwirken.

Historisiertes Phänomen

 

Und so wurde die Kunde von der Heimat selber zum Ort der Heimat. Die gedruckten Heimatkunde-Bücher dokumentieren eine Gesellschaft, in welcher Heimat immer mehr als kulturelles Museumsgut verstanden wird. Exemplarisch deutlich wird dies in der Heimatkunde Reinach von 1975. Eine „junge Stadt mit Tradition“, so definierte sich die rasch gewachsene Agglomerationsgemeinde. Tradition bedeute gemeinsame Zielsetzung, das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft, steht im Vorwort zu lesen. Doch kann ein Buch da helfen? Jenen, welche es produzieren, ja: In Reinach wie anderswo bewirkte die Herstellung eine geradezu aktuell wirkende corporate community unter den Schreibenden. Die meist von Laien gestaltete Produktion schafft tatsächlich eine temporäre Interessenbündelung, ein Gemeinschaftsgefühl. Und die Leserschaft? Für sie bleibt das Identifikationsangebot breit und ungreifbar zugleich. Das Bedürfnis nach kollektiver Identität wird denn auch kaum in der Schilderung der modernen Gemeinde und ihrer Institutionen gestillt. Sondern wohl noch am ehesten im Schlusskapitel „Folklore“. Ob wiederbelebtes Schau-Brauchtum oder das 1961 eröffnete Heimatmuseum geschildert werden – die Verlockung ist gross, Heimat als das zu verstehen, was einst verband. So wird in der Reinacher Heimatkunde 1975 trotz aller Bemühungen Heimat weniger als sozialer Handlungsraum der Gegenwart plastisch, sondern vielmehr als historisiertes und kulturalisiertes Phänomen. Für die Lesenden stellen die bis heute 51 Baselbieter Heimatkunden so eine wertvolle Dokumentation dar – nicht nur über die Situation der jeweiligen Gemeinde, sondern auch über deren Versuch, sich selbst im Buch zu finden.

Anti-Globalisierung

 

Heute steht in den Grundschulen „Heimatkunde“ nicht mehr auf dem Stundenplan. Höchstens noch entschlüpft einer Lehrperson das Wort, wenn sie vom Zolli, der Fähre und dem Vogel Gryff erzählt. Der sachbezogene Unterricht ist definitiv an die Stelle der ganzheitlich angelegten Heimaterziehung getreten. Das Lokale ist allenfalls Anschauungsgegenstand in Fächern wie Biologie, Geographie oder Geschichte. Darin widerspiegelt sich, anders als in Deutschland, keine bewusste Abgrenzung gegen die historische Tradition der Heimaterziehung. Im nördlichen Nachbarland unterblieb nach 1945 vorerst eine Anpassung der heimatkundlichen Pädagogik an die Gegenwart. Statt aufgeklärter Basisbildung wurde wieder in Gemütsbildung und Agrarromantik gemacht. Dieser kulturkritische-retrospektive Ansatz entsprach der allgemeinen Verweigerung zur Vergangenheitsbewältigung und wurde erst Ende der 1960er-Jahre aufgebrochen. In der Schweiz hingegen kam es eher zu einer desinteressierten Abwendung von Heimatkunde. So dominieren heute zwei Richtungen, die bebilderte Nostalgik und die dokumentarische Chronik. Zu den ersteren zählen all die Postkarten- und Kuriosasammlungen, zu der letzteren die Reihen der Baselbieter Heimatkunden und des Basler Stadtbuchs. Sie haben alle ihr Publikum und ihre Berechtigung. Doch wo erfüllt heute Heimatkunde ihren potentiellen Sinn, die Schaffung von Verantwortlichkeitsbewusstsein, von Orientierungshilfen und Meinungsbildung? Wie kann heute Heimat verkündet werden, damit sie auch Migrantinnen, Jugendliche und Konsumenten interessiert? Vielleicht braucht es weniger Wissen und Gewissheiten als fruchtbare Irritationen und Fragen.

Heimat – Gestaltung

 

„Das ist die Bedeutung dieser Expo, dass sie im Modus künstlerischer Sprachen die schnell schrumpfende Bedeutung der Schweiz für die heute typischen Schweizer heiter offenlegt.“ Selten hat jemand die Vorzüge der expo.02 nachträglich so auf den Punkt gebracht wie der Inlandredaktor der Basler Zeitung Lukas Schmutz. Und zugleich die Grenzen dieser Zumutung: Denn der künstlerische Zugriff auf Heimat hat zwar zu Irritationen geführt, hat Verfremdungen und Dekonstruktionen ermöglicht. Aber taugte die an der expo.02 ausgestellte Kunst tatsächlich „als Transformationsmotor von Realität“? Die Heimatfabrik in Murten war sicher eine der ambitionierteren und komplexeren Ausstellungen der expo.02, doch gerade hier wurde das Scheitern dieses Ansatzes besonders deutlich. Im Zentrum des Parcours die organisch-mechanische Heimatmaschine von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger: ein faszinierendes, dynamisches und witziges Modell mit hohem Erlebnisgehalt. Vielleicht hätte man es dabei belassen und auf begleitende Rationalitäten (Thesen wie „Heimat ist Landschaft. Alles Fremde wird übersehen“) verzichten sollen. Denn genau diese Vermittlung vom autonomen Kunstwerk zur gesellschaftlichen Heimaterfahrung der Betrachtenden scheiterte, auch auf dem Handzettel, der am Eingang verteilt wurde. In schmerzhaftem Gegensatz zur künstlerischen Botschaft erschöpft sich Heimat nicht in subjektivierten Bildern, sondern hat immer mit Institutionen zu tun, muss Schulen, Vereinen, Parkordnungen, Abstimmungssonntagen und dergleichen abgerungen werden. Die radikale Subjektivierung und Multimedialisierung, welche das Gesamtprojekt expo.02 durchzog, führte stattdessen zum Konsum von Oberflächen. Diese „Imagi-Nation“ belebte das Geschäft mit neuen, sexy Symbolen, verlockte aber weder zu Widerstand gegen Entfremdung noch zu Neugier auf Entdeckungen.

 

Da bietet das bewährte Medium Heimatkunde-Buch denn doch mehr Chancen, die Postmoderne zu bewältigen. Die klassischen Baselbieter Heimatkunden oder das Basler Stadtbuch zum Beispiel bilden eine mögliche Form lokalen Gedächtnisses. Dazu braucht es immer noch Bücher, das Internet leistet höchstens ergänzende Dienste zur Aktualisierung der Fakten. Vielleicht müsste man in Zukunft aber jede solche Ortsdokumentation ergänzen mit einer anderen Form von Heimatkunde: mit erzählerischen Erkundungen, biographischen Spurensuchen und subjektiv-persönlichen Heimatgeschichten. Niklaus Meienbergs zornig-zärtliches Werk ist eine einzige Schweizer Heimatkunde… Spätestens wenn eine Gemeinde sich zur Zweitauflage ihrer Heimatkunde aufmacht, sollte sie Alternativen abtasten. Gäbe es nicht auch andere, partizipativere Möglichkeiten der Erkundung?. Der Verein Frauenstadtrundgang zum Beispiel macht seit über zehn Jahren in Stadt und Land mit anhaltendem Erfolg vor, wie Wissen in Führungen umgesetzt werden kann (www.femmestour.ch). Noch konsequenter auf die Entdeckungslust setzt die Bewegung Grabe wo du stehst. Sie hat sich auf ihr Programm geschrieben, so genannte Laien zur aktiven Erforschung ihres Umfelds zu motivieren. In Basel lud so zum Beispiel vorletztes Jahr die Förderbar zur Bestückung eines Museums der Zukunft ein. In einem anderen Projekt machten sich die Quartierbewohnerinnen und -bewohner rings um die Claramatte auf Spurensuche (www.claramatte.ch). Und im Museum für Gestaltung präsentierten Lehrlinge der Berufsschulklassen „Ich-Denkmäler“ aus ihrem Lebens- und Arbeitsumfeld (www.catch.ch). Diese Form soziokultureller Animation prägt auch Integrationsprojekte der Caritas und anderer Institutionen. Ihre Qualität liegt darin, dass sie auf die Nachhaltigkeit der aktiven Erkundung und Erfahrung setzen, auf die Gestaltungskraft und Mitarbeit einer lokalen Gruppe.

Basel unlimited ©

 

Moderne Heimatkunde erschöpft sich nicht in individueller Erfahrung oder soziokultureller Animation. Sie wäre auch verstärkt – wieder – als kulturpolitisches Anliegen zu begreifen. Und zwar neu als Prozess der Re-Integration, der Befähigung zur Bejahung und Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungen. Orte und Trägerschaften existieren bereits: Beheimatung steht sowohl auf der Agenda kirchlicher Gemeindearbeit, auf dem Flyer der Quartiervereine wie im Leitbild der regionalen Museen. Die 1961 gegründete Gesellschaft für Baselbieter Heimatforschung hat diesen Neuaufbruch auch in ihrem heutigen Namen deutlich gemacht. Seit Frühling 2002 heisst sie Gesellschaft für Regionale Kulturgeschichte Baselland. Entsprechend setzt sich dieser Zusammenschluss interessierter Köpfe dafür ein, über die vererbte territoriale Begrenzung hinaus Heimat zu erforschen und zu verkünden. Als reflektierte Form von Landeskunde: im interdisziplinären Austausch zwischen Kultur- und Naturwissenschaften sowie im Gespräch zwischen Institutionen, Wissenschaften und Bevölkerung. Vielleicht täte eine solche Entschubladisierung der städtischen Kulturgeschichtsverwaltung auch ganz gut. Und umgekehrt dürften die vor-städtischen Agglomerationsgebiete ruhig etwas mehr Mut zur Pluralität zeigen und neue kollektive Identitäten in Buchform bringen.

 

Schluss mit der Heimatkunde – das machen jene laufend, welche das Schweizerkreuz zur Ikone erheben, ob auf dem Tshirt oder im Parteiprogramm. Denn gerade moderne Heimatkunde erfordert einen grenzüberschreitenden Blick. Es kann dabei nicht darum gehen, links-nostalgische Regionalisierungsmodelle aus den 1970er-Jahren wiederzubeleben. Ebenso wenig scheint es nötig, die bereits wieder verstummte Modedebatte über non-lieux hervorzugraben. Das Reden über Globalisierung, das Verständnis unserer Abhängigkeit von weltweiten ökonomischen Prozessen ist zwar sinnvoll, muss aber in Form einer kognitiven Glokalisierung erfolgen. So wie es Vaclav Havel 1997 formulierte: „Wir sollten lernen, die Heimat wieder […] als unseren Teil der ‚Welt im Ganzen‘ zu empfinden, das heisst als etwas, das uns einen Platz in der Welt verschafft, statt uns von dieser Welt zu trennen.“ Der Region Basel ist eine Heimatkunde zu wünschen, welche fragend jenen Lebensraum erkundet, den Städteplaner und Ökonomen als trinationale Agglomeration konstruieren, dessen Identität nach aussen als einfarbig rot-blau und historisch-kulturell definiert wird – und der in Wirklichkeit wohl eher als heterogenes Durcheinander von Heimaten mit sozial, kulturell und räumlich unterschiedlichen Dimensionen funktioniert: als Basel unlimited©.

 

Literatur zum Thema:
Hartmut Mitzlaff: Heimatkunde und Sachunterricht. Historische und systematische Studien zur Entwicklung des Sachunterrichts, Dortmund 1985, 3 Bde.; René Salathé: Ein Blick auf die Gipfelflur der landeskundlichen Forschung im Kanton Basel-Landschaft, in: Baselbieter Heimatblätter 66, 2001, S. 97-120.; Eduard Strübin: Über Heimatkunde und schweizerische Heimatkunden im 19. Jahrhundert, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 67, 1971, S. 41-61.

Dieser Text wurde erstmals publiziert im Basler Magazin, 8. Februar 2003.