Was hat eine so unscheinbare Zeichnung zu suchen in der neuen Kantonsgeschichte? Und noch dazu im Band über das 19. Jahrhundert, wo doch das Sujet offenbar zurück ins Ancien Régime verweist und der Zeichner aus unserem Jahrhundert stammt… In diesem Bild verknüpfen sich historische Referenzen mit kulturgeschichtlichen Diskursen über drei Jahrhunderte hinweg: Die Illustration steht ebenso für das, was sie abbildet, wie für die Geschichte ihrer Entstehung.
Der Maler
Es handelt sich um eine Zeichnung auf dünnem Transparentpapier, offensichtlich eine Nachzeichnung. Als Vorlage lässt sich ein Gemälde von François Bandinelli annehmen. Ursprünglich Band getauft, änderte dieser Maler seinen Namen 1792. Zwischen 1795 und 1802 wirkte er als Zeichenlehrer an der Zentralschule in Porrentruy. Er schuf eine ganze Reihe gemalter Vögel und Zeichnungen von Schlössern im Berner Jura. Aus den Jahren 1780 bis 1795 stammt zudem eine Serie von Trachten- oder Standesporträts. Sie reicht vom Paysan de Fontenais über die Paysanne d’Alle bis zur Bourgeoise de St. Ursanne oder eben zur Bourgeoise de Laufon. Jedesmal findet sich dieselbe typisierte Darstellung, der landschaftliche Hintergrund ist nur angedeutet, die Gesichtszüge sind kaum charakterisiert. Wichtig schien dem Maler hingegen die exakte Wiedergabe der Kleidung. Unterschiedliche Stoffe und Haubenformen markieren regionale Differenzen, Accessoires wie Brotkorb oder Fische verweisen auf die bäuerliche Arbeitswelt. Die beiden städtischen Frauenfiguren hingegen halten Schlüsselbund oder (Gebet)Buch in den Händen, standesgemässe Zeichen der Weiblichkeit.
Der Zeichner
Die Nachzeichnung der „Bourgeoise“ beschränkt sich auf die Hauptlinien der Kleidungsteile, widmet gerade der Haube etwas mehr Detailgenauigkeit. Betitelt ist das Bild nicht. Auch fehlt der bei Bandinelli zu sehende Hintergrund (ein Bauernhaus!) hier völlig. Offensichtlich wollte der Zeichner nicht das Original imitieren, sondern das für ihn Wesentliche mit raschem Strich festhalten. Die präzise Übereinstimmung der Haltung und das verwendete Papier lassen vermuten, dass er nicht das Gemälde als Vorlage benutzte, sondern direkt ab einem Nachdruck eine Pauskopie anfertigte. Gezeichnet hat diese Skizze Emil Kräuliger (1879-1950). Als Maschineningenieur kam er zur Industriegesellschaft Schappe nach Grellingen. Dort verheiratete er sich 1906 mit der Tochter des Direktors und nahm in der Folge als Gemeinde- und Kirchenrat sowie als Schulkommissionsmitglied und Orchesterdirigent Anteil am Gemeindeleben. In den 1920er- bis 1940er-Jahren gehörte Kräuliger neben Joseph Gerster-Roth zu den bedeutendsten Laienhistorikern im Laufental. Er war massgeblich beteiligt an den urgeschichtlichen Grabungen im Kaltbrunnental und gehörte 1927 zu den Gründungsmitgliedern der Gesellschaft Raurachischer Geschichtsfreunde. In seinem Nachlass finden sich zahlreiche Abschriften aus Akten kommunaler und staatlicher Archive, Zeugnisse einer intensiven Sammlertätigkeit.
Die Tracht
Datiert ist die Skizze mit 1932. Vier Jahre später wurde die Laufentaler Trachtengruppe gegründet, wozu mit Joseph Gerster-Roth ein anderer bedeutender Lokalhistoriker gehörte. Im Vereinsprotokoll der Trachtengruppe heisst es 1936: „Es wird vorausgesetzt, dass eine vorhandene Frauenhaube, wie sie vor mehr als hundert Jahren im Laufental getragen wurde, als Grundlage für die weitere Tracht dienen soll.“
Was die Kantonal-bernische Trachtenvereinigung dann um 1940 in ihrem Büchlein als Laufner Tracht abbildet, hat mit Bandinellis respektive Kräuligers Bild eine vage Ähnlichkeit. Das könnte heissen, dass die neue Tracht sich – wider besseres Wissen?- auf eine Kleidungsform beruft, die erst im 19. Jahrhundert entstand, sozusagen auf die bürgerliche Tracht. So wie Kräuliger das Standesporträt zu einer „Figur“ reduzierte, so scheint das Standeszeichen Haube zu einem regionalen Typus erweitert worden zu sein. Der Verdacht verstärkt sich, weiss man, dass Joseph Gerster-Roth selbst bekannt war, dass eine einheitliche „Laufentaler Tracht“ gar nie existiert hatte. Den ständischen Unterschied zwischen Stadt- und Landtracht, der 1735 fast zu einem Hexenprozess in Laufen geführt hatte, hatte Gerster-Roth nämlich eigenhändig literarisch verarbeitet… Obwohl er den Konflikt zwischen Städterinnen und Bäuerinnen vor dem Hintergrund der „Troublen“, jener grossen Herrschaftskrise des 18. Jahrhunderts im Fürstbistum, als anekdotisches Ereignis darstellte, muss ihm die kulturelle und soziale Tragweite jenes kleinen Unterschiedes bewusst gewesen sein.
Traditionsstiftung
Vor dem Hintergrund der Landi 1939 wurde im Laufental ein spezifisch historisches Kleidungsstück zum Zeit und Schichten übergreifenden Symbol regionaler Identität stilisiert. In der Laufentaler Tracht widerspiegeln sich nicht so sehr Realitäten des 19. und noch weniger des 18. Jahrhunderts, sondern eher die Regionalisierungs- und Folklorisierungsdiskurse der Moderne. Zu dieser kulturgeschichtlichen Traditionsstiftung des frühen 20. Jahrhunderts gehört auch die Skizze Emil Kräuligers. Obwohl noch stärker dem historischen Original verpflichtet als die Tracht von 1936, ist es keine Rekonstruktion oder Dokumentation. Das Bild könnte als Sinnbild jener frühen lokalgeschichtlichen Forschung und ihrer Problematik stehen: Die Details stimmen, der Kontext wird weggelassen.
Erschienen in: Geschichte 2001. Mitteilungen der Forschungsstelle Baselbieter Geschichte, Nr. 28, September 1999, S. 3-5.